VK Sachsen-Anhalt
Beschluss
vom 16.01.2025
2 VK LSA 14/24
1. Der öffentliche Auftraggeber muss die Vergabeunterlagen so eindeutig gestalten, dass die Bieter ihnen deutlich und sicher entnehmen können, welche Erklärungen von ihnen in welchem Stadium des Vergabeverfahrens abzugeben sind. Andernfalls scheidet ein Angebotsausschluss wegen fehlender Erklärungen aus.
2. Die Formulierung "abgeschlossene Geschäftsjahre" im Formblatt 124 LD VHB ist bei einer Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont eines fachkundigen Bieters mehrdeutig und lässt unterschiedliche Interpretationen zu.
3. Soweit der öffentliche Auftraggeber von den Bietern lediglich Angaben zu Umsätzen der vergangenen drei Kalenderjahre fordern will, ohne dass hierfür ein Jahresabschluss vorliegen muss, hat er dies unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen.
VK Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16.01.2025 - 2 VK LSA 14/24
In dem Nachprüfungsverfahren
(...)
wegen der gerügten Vergabeverstöße bezüglich der Vergabe der Leistung "Erbringung moderner Hybridpostleistungen für den Fachbereich Jobcenter"
hat die 2. Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden Herrn Regierungsdirektor XXX, die hauptamtliche Beisitzerin Frau XXX und den ehrenamtlichen Beisitzer Herrn XXX
beschlossen:
1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in den Stand vor Prüfung und Wertung zurückzuversetzen und diese unter Einbeziehung des Angebots der Antragstellerin sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Die Verfahrensgebühr wird auf XXX Euro festgesetzt. Der Antragsgegner ist von der Entrichtung der Gebühren befreit.
3. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten.
4. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für die Antragstellerin wird für notwendig erklärt.
Gründe:
I.
Der Antragsgegner schrieb mit Auftragsbekanntmachung vom 06.02.2024 im Wege eines offenen Verfahrens auf der Grundlage der Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (Vergabeverordnung - VgV) die Vergabe der o. g. Leistung europaweit aus.
Zur Eignung in Bezug auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit enthalten Ziffer 5.1.9. der Auftragsbekanntmachung sowie die Vergabeunterlagen folgende Ausführungen: "Durchschnittlicher Jahresumsatz des Bieters / der Bietergemeinschaft in den letzten 3 abgeschlossenen Geschäftsjahren von mindestens 200.000 EUR (netto) - bezogen auf den Auftragsgegenstand (Hybridpostdienstleistungen) inkl. aller Teilleistungen."
Gemäß Ziffer 2.1.4. der Auftragsbekanntmachung konnten die wirtschaftlichen und finanziellen Angaben des Bieters mit dem Formblatt 124 LD VHB (künftig als Eigenerklärung benannt) abgegeben werden. Das Formblatt ist Bestandteil der Vergabeunterlagen. Hier hatten die Bieter hinsichtlich des vorgenannten Eignungskriteriums folgende Eintragungen vorzunehmen:
"[Ankreuzfeld] Umsatz des Unternehmens in den letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahren, soweit er Leistungen betrifft, die mit der zu vergebenden Leistung vergleichbar sind unter Einschlass des Anteils bei gemeinsam mit anderen UNternehmen ausgeführten Leistungen
[Textfeld] Euro
[Textfeld] Euro
[Textfeld] Euro"
Entsprechend der Aufforderung zur Abgabe eines Angebots war die Eigenerklärung mit dem Angebot einzureichen.
Gemäß Ziffer 5.1.12 der Auftragsbekanntmachung behielt sich der Antragsgegner vor, fehlende Unterlagen nachzufordern.
Hinsichtlich des Nachweises der technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit waren nach der Auftragsbekanntmachung mindestens zwei Referenzen aus den letzten drei Geschäftsjahren vorzulegen. Mit der Eigenerklärung erklärte der Bieter, in den letzten drei Jahren vergleichbare Leistungen ausgeführt zu haben.
Die Antragstellerin sowie zwei weitere Bieter reichten fristgerecht Angebote ein.
Bestandteil des Angebots der Antragstellerin ist u. a. die Eigenerklärung. Hier trug sie Umsatzzahlen unter Angabe der Jahreszahlen 2020, 2021 und 2022 ein.
Am 07.05.2024 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin gemäß § 134 GWB mit, dass ihr Angebot von der Wertung auszuschließen sei. Der Antragsgegner habe zum Nachweis der finanziellen Leistungsfähigkeit in der Auftragsbekanntmachung Umsatzzahlen für die Jahre 2021, 2022 und 2023 gefordert. Die Antragstellerin habe in der Eigenerklärung Umsatzzahlen der Geschäftsjahre 2020, 2021 und 2022 angegeben. Nach der Rechtsprechung der 3. Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt handele es sich hier nicht um eine fehlende, sondern um eine unrichtige Erklärung, welche keiner Nachforderung zugänglich sei. Eine nachträgliche Änderung dieses Eignungsnachweises sei unzulässig. Die Antragstellerin nehme mit der Angabe der unrichtigen Umsatzzahl Änderungen an den Vergabeunterlagen vor. Dies führe zwingend zum Ausschluss des Angebots. Es sei beabsichtigt, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen.
Die Antragstellerin rügte diese Entscheidung mit Schreiben vom 08.05.2024 als vergaberechtswidrig. Der Antragsgegner könne die angeblich geforderte Umsatzangabe für das Kalenderjahr 2023 nachfordern. Es handele sich hierbei um unternehmensbezogene Unterlagen, welche nicht der Wirtschaftlichkeitsbewertung der Angebote dienten und somit grundsätzlich einer Nachforderung zugänglich seien. Ferner sei es unzutreffend, dass der Antragsgegner Umsatzangaben für die Kalenderjahre 2021, 2022 und 2023 gefordert habe. Weder aus den Vergabeunterlagen noch der Eigenerklärung habe sich ergeben, dass Angaben für diese Kalenderjahre zu machen seien. Die Bieter seien vielmehr nur aufgefordert worden, Angaben für ihre letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre vorzulegen. Das Kalenderjahr 2023 sei bei der Antragstellerin zum Ende der Angebotsfrist noch nicht abgeschlossen gewesen. Vielmehr seien nur die Kalenderjahre 2020, 2021 und 2022 abgeschlossen. Die Antragstellerin legte eine Bestätigung ihrer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vor. Aus dieser geht hervor, dass die Prüfung des Jahresabschlusses zum 31.12.2023 noch nicht beendet sei und demzufolge die Feststellung des Jahresabschlusses 2023 durch die Gesellschafter noch nicht erfolgt sei.
Der Antragsgegner half der Rüge nicht ab und wies die Einwendungen der Antragstellerin mit Schreiben vom 17.05.2024 zurück. Es sei zwar korrekt, dass in der Auftragsbekanntmachung nicht explizit auf Kalenderjahre, sondern auf die Umsatzzahlen der letzten drei Geschäftsjahre verwiesen worden sei. Als Geschäftsjahr werde die vom Kaufmann festgelegte Rechnungsperiode verstanden. Aus dem Umkehrschluss ergebe sich, dass ein Geschäftsjahr in Ausnahmefällen (beispielsweise Neugründung, Umwandlung etc.) kürzer als zwölf Monate sein könne. Bei einem vom Kalenderjahr abweichenden Geschäftsjahr handele es sich also nicht zwingend um ein Kalenderjahr. Der Antragsgegner habe in den Vergabeunterlagen nicht auf geprüfte oder testierte Jahresabschlüsse verwiesen. Die Bieter seien gehalten gewesen, eine Eigenerklärung abzugeben. Den eingereichten Unterlagen der Antragstellerin sei nicht zu entnehmen, dass sie ein vom Kalenderjahr abweichendes Geschäftsjahr praktiziere. Aufgrund dessen hätte sie die Umsatzzahlen für die Jahre 2021, 2022 und 2023 angeben müssen. Es handele sich bei den von der Antragstellerin eingetragenen Umsatzzahlen auch nicht um unvollständige Angaben, welche einer Nachforderung zugänglich wären. Die Antragstellerin habe eine unrichtige Erklärung abgegeben, so dass eine Nachforderung der Umsatzzahl für 2023 nicht zulässig sei. Eine Pflicht zur Nachforderung bestehe nur für körperlich vorhandene, jedoch in formaler Hinsicht von den Anforderungen abweichende Unterlagen. Eine Nachforderung würde zu einer inhaltlichen Nachbesserung der Unterlage und somit zu einer unzulässigen inhaltlichen Änderung des Angebots führen. Der Antragsgegner verwies in diesem Zusammenhang auf zwei Entscheidungen der 3. Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt (3 VK LSA 36/14; 3 VK LSA 27/20).
Mit Schriftsatz vom 24.05.2024, nunmehr vertreten durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, vertiefte und erweiterte die Antragstellerin ihre Rüge vom 08.05.2024. Ferner rügte sie die Nichtabhilfemitteilung des Antragsgegners. Der Antragsgegner habe nach Maßgabe der Vergabeunterlagen keine spezifische Vorgabe in Bezug auf die Kalenderjahre gefasst. Es seien Angaben hinsichtlich der letzten abgeschlossenen Geschäftsjahre gefordert worden. Der Begriff des abgeschlossenen Geschäftsjahres betreffe dabei ein solches, für das ein Jahresabschluss vorliege. Die Bieter hätten die gestellten Anforderungen so verstehen dürfen und müssen, dass nur Angaben für tatsächlich auch (handelsrechtlich) abgeschlossene Geschäftsjahre vorzulegen seien. In entsprechender Weise sei die Antragstellerin vorgegangen. Als Kapitalgesellschaft habe sie am Ende des Geschäftsjahres einen Jahresabschluss zu erstellen. Dieser schließe die Buchführung und diene u. a. der steuer- und handelsrechtlichen Beurteilung. Die Begrifflichkeit sei eindeutig und abschließend und entsprechend gesetzlich geregelt. Die Vergabeunterlagen seien nicht so auszulegen, dass sich die Angaben auf allgemeine Geschäftsjahre ohne Abschluss bezögen. Es komme vorliegend auch nicht darauf an, dass sich Geschäftsjahre von Kalenderjahren unterscheiden könnten. Die Antragstellerin habe demnach keine fehlende oder falsche oder unrichtige Erklärung abgegeben. Darüber hinaus sei es unzutreffend, dass der Antragsgegner nicht berechtigt sei, Nachforderungen zu stellen. Dies habe er sich ausdrücklich vorbehalten.
Am 27.05.2024 wies der Antragsgegner die Rügen der Antragstellerin erneut zurück und verwies in diesem Zusammenhang auf sein Nichtabhilfeschreiben vom 17.05.2024.
Die Antragstellerin hat am 28.05.2024 den Antrag auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens bei der zuständigen Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt gestellt. Der Antrag auf Nachprüfung ist dem Antragsgegner am 29.05.2024 übersandt worden.
Mit ihrem Antrag hat die Antragstellerin die bereits mit ihren Rügeschreiben vorgetragenen Argumente wiederholt. Im Wesentlichen hat sie ausgeführt, dass sie alle geforderten Eignungsnachweise vorgelegt habe, so auch die geforderten Angaben zum Umsatz ihres Unternehmens der letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre. Der Antragsgegner habe bei einer sachgerechten Lesart der Vergabeunterlagen ausdrücklich nur Angaben über Geschäftsjahre gefordert, für die bereits ein Jahresabschluss vorliege. Der Begriff des abgeschlossenen Geschäftsjahres unterscheide sich auch von dem Begriff des Kalenderjahres. Auch dies ergebe sich bereits eindeutig aus der Eigenerklärung.
Die Antragstellerin beantragt,
- dem Antragsgegner zu untersagen, in dem Vergabeverfahren den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen,
- den Antragsgegner zu verpflichten, das Angebot der Antragstellerin nicht auszuschließen, sondern das Vergabeverfahren bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Prüfung und Wertung der Angebote zurückzuversetzen und die Angebote unter Einbeziehung des Angebots der Antragstellerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer erneut zu prüfen und zu bewerten.
Der Antragsgegner ist den Ausführungen der Antragstellerin entgegengetreten und beantragt,
den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückzuweisen.
Dies hat er u. a. mit seinen bereits im Nichtabhilfeschreiben vorgetragenen Argumente begründet und hat diese erweitert. Er hat ausgeführt, er habe das Angebot der Antragstellerin gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV, hilfsweise gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV wegen vorgenommener Änderungen an den Vergabeunterlagen vom weiteren Verfahren ausgeschlossen.
Unter einem abgeschlossenen Geschäftsjahr im vergaberechtlichen Sinne sei zum einen die Rechnungsperiode, welche meistens dem Kalenderjahr entspreche, zu verstehen. Zum anderen müsse dieses Geschäftsjahr auch nur praktisch abgelaufen sein. Im Zusammenspiel mit der Eigenerklärung käme es gerade nicht darauf an, ob das Geschäftsjahr im buchhalterischen Sinne, z. B. durch einen testierten Jahresabschluss abgeschlossen sei. Zur Beurteilung der Eignung müssten dem Auftraggeber aktuelle Zahlen vorliegen. Soweit es für einen Bieter nicht eindeutig gewesen sei, welche Umsätze anzugeben seien, habe die Möglichkeit bestanden, dies durch eine Bieterfrage klarzustellen.
Mit Schreiben vom 19.09.2024 hat die Vergabekammer den Antragsgegner darauf hingewiesen, dass von einem zulässigen und begründeten Nachprüfungsantrag auszugehen sei. Das Angebot der Antragstellerin sei zu Unrecht von der Wertung ausgeschlossen worden. Der Antragsgegner habe das Vergabeverfahren bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Prüfung und Wertung der Angebote zurückzuversetzen und die Wertung unter Einbeziehung des Angebots der Antragstellerin zu wiederholen. Die Forderung des Antragsgegners in der Auftragsbekanntmachung und der Eigenerklärung hinsichtlich der Umsatzangaben für die letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre sei nicht eindeutig, da sich aus Sicht eines fachkundigen Bieters mehrere Auslegungsmöglichkeiten eröffnen würden.
Zum einen könne die Forderung so verstanden werden, dass es sich dabei um die letzten drei Kalenderjahre handele, da der Auftraggeber an möglichst aktuellen Angaben interessiert sei.
Gegen eine solche Auslegung spreche jedoch andererseits, dass der Antragsgegner abweichend von dem Wortlaut der VgV den Begriff "abgeschlossene Geschäftsjahre" verwendet habe. Nach kaufmännischer Betrachtungsweise sei hierfür ein geprüfter Jahresabschluss notwendig.
Der Antragsgegner sei gehalten gewesen, seine Vorgaben zu präzisieren, um unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten zu vermeiden. Er habe der Antragstellerin Gelegenheit zu geben, die Umsatzangaben nachzureichen, um somit den Vergabeverstoß in einem transparenten und diskriminierungsfreien Verfahren zu beseitigen.
Mit Schreiben vom 24.09.2024 hat der Antragsgegner an seiner Rechtsauffassung festgehalten. Anders als die Vergabekammer meine, seien zwei Auslegungsmöglichkeiten nicht gegeben. Er hat im Wesentlichen ausgeführt, dass gemäß den Formblättern des Bundes, welche grundsätzlich im Einklang mit der VgV stünden, an dieser Stelle auch keine weitere Konkretisierung vorzunehmen bzw. gefordert sei. Um eine tragfähige Prognose über die finanzielle Leistungsfähigkeit des Bieters ableiten zu können, seien durch ihn "aktuelle" Umsatzzahlen beizubringen.
Des Weiteren komme eine Auslegung nach dem HGB nicht in Betracht, da der Herausgeber der VHB-Formblätter die Eigenerklärung abgeändert habe. Er habe von der Forderung nach testierten Jahresabschlüssen Abstand genommen. Somit sei es den Bietern möglich, lediglich Eigenerklärungen hinsichtlich der Umsatzzahlen abzugeben. Der Ersteller der Formblätter habe gerade deutlich gemacht, dass eine Auslegung nach kaufmännischen Gesichtspunkten demzufolge nicht in Betracht komme und ein geringerer Maßstab anzusetzen sei.
Ebenso stütze sich der Antragsgegner ausdrücklich auf die Entscheidung der 3. Vergabekammer in gleicher Sachlage. Hier sei bereits entschieden worden, dass bei der Forderung der Umsatzzahlen zu den letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahren eine Nachforderung ausscheide.
Mit Beschluss vom 11.10.2024 ist die Beigeladene zum Verfahren hinzugezogen worden. Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt und keine Stellungnahme abgegeben.
Alle Verfahrensbeteiligten haben auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet. Ihnen ist die Möglichkeit einer abschließenden Stellungnahme eingeräumt worden.
Hiervon hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 20.12.2024 Gebrauch gemacht. Er führte im Wesentlichen aus, dass bei der Auslegung der Eigenerklärung stets vom Empfängerhorizont und Verständnis eines fachkundigen Bieters auszugehen sei. Dieser könne die Eigenerklärung nur so verstehen, dass Umsatzangaben für die letzten drei Kalenderjahre gefordert seien. Sowohl für verständige Bieter als auch für Auftraggeber sei es offensichtlich, dass bei der Beurteilung der Eignung eines Bieters auf dessen aktuelle wirtschaftlichen Situation abzustellen sei. Danach könnten sich die Vorgaben des Auftraggebers nur auf die letzten drei - praktisch durch Ablauf - abgeschlossenen Geschäftsjahre beziehen.
Der Vorsitzende hat gemäß § 167 Abs. 1 GWB die Frist zur Entscheidung letztmalig bis zum 17.01.2025 verlängert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer, sowie auf die Vergabeakte Bezug genommen.
II.
Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet.
1. Zulässigkeit
1.1 Zuständigkeit
Gemäß §§ 155, 156 Abs. 1, 158 Abs. 2 GWB i. V. m. der Richtlinie über die Einrichtung von Vergabekammern in Sachsen-Anhalt und der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Vergabekammern des Landes Sachsen-Anhalt ist die 2. Vergabekammer für die Nachprüfung des vorliegenden Vergabeverfahrens sachlich und örtlich zuständig.
Der maßgebliche Schwellenwert für die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB ist überschritten. Der Anwendungsbereich des 4. Teils des GWB (§§ 97 ff.) ist eröffnet.
Der Antragsgegner ist öffentlicher Auftraggeber gemäß §§ 98, 99 Nr. 1 GWB.
1.2 Antragsbefugnis
Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt. Nach § 160 Abs. 2 GWB ist jedes Unternehmen antragsbefugt, das ein Interesse am Auftrag hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Dabei ist darzulegen, dass dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Die Antragstellerin hat durch die Abgabe eines Angebotes ihr Interesse am Auftrag dokumentiert. Sie hat ferner vorgebracht, dass ihr Angebot zu Unrecht vom Vergabeverfahren ausgeschlossen worden sei und ihr durch den behaupteten Vergabeverstoß ein Schaden zu entstehen drohe.
1.3 Rüge
Die Antragstellerin ist weiterhin ihrer Rügeobliegenheit gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB nachgekommen. Nach dieser Vorschrift ist der Antrag unzulässig, wenn der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichung des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb der Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat.
Die Antragstellerin hat am 07.05.2024 durch das Informationsschreiben Kenntnis darüber erlangt, dass ihr Angebot von der Wertung ausgeschlossen und der Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen erteilt werden solle. Mit Rügeschreiben vom 08.05.2024 hat sie sich hiergegen gewandt und ausgeführt, der Ausschluss sei rechtswidrig. Damit hat sie die Frist von zehn Kalendertagen eingehalten.
Der Vortrag der Antragstellerin ist auch nicht gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 GWB präkludiert. Hiernach ist ein Antrag unzulässig, soweit Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung oder erst in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden.
Die Antragstellerin war nicht verpflichtet, den Antragsgegner mittels einer Bieterfrage oder gar einer Rüge vor Angebotsabgabe zur Klarstellung der Formulierung "abgeschlossene Geschäftsjahre" aufzufordern. Sie konnte in vertretbarer Weise davon ausgehen, dass die Angaben zum Umsatz für die Jahre gefordert waren, für die ein Jahresabschluss vorliegt. Aus ihrer Sicht waren die Vorgaben des Antragsgegners eindeutig. Sie sah sich bis zum Ausschluss ihres Angebots nicht veranlasst, eine etwaige Unklarheit dieser Forderung anzunehmen. Erst mit Erhalt des Informationsschreibens erlangte sie Kenntnis über eine weitere Auslegungsmöglichkeit der entsprechenden Formulierung. In diesem Zusammenhang wird auf die nachfolgenden Ausführungen zur Begründetheit verwiesen.
Ferner hat die Antragstellerin die Frist gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GWB eingehalten. Danach ist ein Antrag unzulässig, wenn mehr als 15 Kalendertage nach Eingang der Mitteilung des Auftraggebers, einer Rüge nicht abhelfen zu wollen, vergangen sind. Der Antragsgegner hat am 17.05.2024 der Antragstellerin ein Nichtabhilfeschreiben übersandt. Am 28.05.2024 hat die Antragstellerin fristgerecht die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens beantragt.
2. Begründetheit
Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet. Die Antragstellerin hat nach § 97 Abs. 6 GWB einen Anspruch darauf, dass der Antragsgegner bei fortbestehender Beschaffungsabsicht die Wertung der Angebote unter Einbeziehung ihres Angebots wiederholt. Der Antragsgegner hat das Angebot der Antragstellerin zu Unrecht vom Vergabeverfahren ausgeschlossen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs korrespondiert mit der Ausschlusssanktion für Angebote, welche geforderte Erklärungen nicht enthalten (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV), die Verpflichtung der Auftraggeber, die Vergabeunterlagen so eindeutig zu gestalten, dass die Bieter ihnen deutlich und sicher entnehmen können, welche Erklärungen von ihnen in welchem Stadium des Vergabeverfahrens abzugeben sind. Genügen die Vergabeunterlagen dem nicht, darf der Auftraggeber ein Angebot nicht ohne weiteres wegen Fehlens einer entsprechenden Erklärung aus der Wertung nehmen, sondern muss dieses Defizit der Vergabeunterlagen ausgleichen und den Bietern Gelegenheit geben, die fraglichen Erklärungen nachzureichen (vgl. BGH, Urteil vom 15.01.2013 - X ZR 155/10 und Urteil vom 3. April 2012 - X ZR 130/10).
Auch ein Ausschluss eines Angebots wegen Änderungen der Vergabeunterlagen gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV kommt nur in Betracht, wenn der Auftraggeber die Vorgaben, die der Bieter modifiziert haben soll, eindeutig und unmissverständlich formuliert hat.
So liegt der Fall hier jedoch nicht.
Der Antragsgegner hat u. a. in der Auftragsbekanntmachung und der Eigenerklärung zur Eignung Liefer- / Dienstleistungen - Formblatt 124 LD - VHB von den Bietern Angaben zu Umsätzen der letzten drei "abgeschlossenen Geschäftsjahre" gefordert.
Die Formulierung "abgeschlossene Geschäftsjahre" ist bei einer Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont eines fachkundigen Bieters mehrdeutig und lässt unterschiedliche Interpretationen zu.
Die Forderung kann einerseits so verstanden werden, dass es sich grundsätzlich um die letzten drei Kalenderjahre vor Beginn des Vergabeverfahrens handelt (so auch das Verständnis des Antragsgegners). Hiernach kommt es auf das Vorliegen von Jahresabschlüssen nicht an. Hierfür spricht, dass der Auftraggeber an möglichst aktuellen Zahlen interessiert ist. Aus seiner Sicht ist auf die gegenwärtige Situation des Bieters abzustellen, um dessen Eignung beurteilen zu können. Diese Auffassung hat auch die 3. Vergabekammer des Landes Sachsen-Anhalt vertreten (vgl. Beschluss vom 12.06.2014 - Az. 3 VK LSA 36/14). Ferner spricht dafür, dass der Antragsgegner von der Möglichkeit Gerbrauch gemacht hat, als Beleg für die erforderliche wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit des Bieters lediglich eine Eigenerklärung über den Umsatz zu verlangen (vgl. § 45 Abs. 4 Nr. 4 VgV). Er hat davon abgesehen, i. S. d. § 45 Abs. 4 Nr. 3 VgV die Vorlage von Jahresabschlüssen zu fordern.
Dieses Verständnis ist jedoch nicht zwingend. Gegen die vorgenannte Auslegung spricht andererseits u. a., dass der Antragsgegner in der Auftragsbekanntmachung und der Eigenerklärung abweichend von dem Wortlaut des § 45 Abs. 4 Nr. 4 VgV Angaben zu "abgeschlossenen Geschäftsjahren" (nicht allein zu Geschäftsjahren) gefordert hat. Ferner wurden Angaben zu vergleichbaren Leistungen (Referenzen) in der Auftragsbekanntmachung für die "letzten drei Geschäftsjahre" und in der Eigenerklärung für die letzten "drei Jahre" gefordert. Schon allein aufgrund dieser unterschiedlichen Formulierungen konnte ein fachkundiger Bieter den Schluss ziehen, der Antragsgegner beziehe sich bei der Angabe der Umsätze nicht auf die letzten drei Kalenderjahre. Auch aus kaufmännischer Sicht setzt ein "abgeschlossenes Geschäftsjahr" das Vorliegen eines Jahresabschlusses voraus (vgl. Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht / Hövelberndt, 4. Aufl. 2022, VOB/A § 6a, Rn 39; so auch VK Berlin, Beschluss vom 05.05.2023 - Az. VK B 1-19/22). In entsprechender Weise hat das für Bauwesen des Bundes zuständige Ministerium mit Erlass vom 26.02.2020 ("Interpretation VOB/A 2019 - Az.: 70421/21) diesen Begriff interpretiert. Nach diesem Erlass sind für die Umsatzangaben die letzten drei Geschäftsjahre zugrunde zu legen, für die entsprechende Jahresabschlüsse beim jeweiligen Bieter vorliegen. Angaben zu Umsätzen aus noch nicht abgeschlossenen Geschäftsjahren schulde der Bieter auch dann nicht, wenn er sein Geschäftsjahr während des Vergabeverfahrens, aber nach Ablauf der Angebotsfrist abschließe. Auch wenn sich dieser Erlass auf die VOB/A bezieht, ist Gegenstand der Auslegung der Begriff "abgeschlossene Geschäftsjahre". Einem Bieter kann nicht angelastet werden, diesen Begriff wie das Ministerium zu verstehen.
Dem Antragsgegner kann somit nicht gefolgt werden, wenn er ausführt, die Eigenerklärung des Vergabe- und Vertragshandbuchs für die Baumaßnahmen des Bundes (VHB) lasse sich nur in seinem Sinne interpretieren. Herausgeber des VHB ist ebenfalls das für Bauwesen des Bundes zuständige Ministerium. Das Ministerium hat die Abänderungen überdies lediglich mit der Entlastung von kleinen und mittleren Unternehmen sowie Bürokratieabbau begründet (vgl. Anlage "Dokumentation der Änderungen" des Erlasses zur Einführung des VHB 2017 vom 08.12.2017 - B I 7 - 81064.02/01 - hier Verzicht auf die Bestätigung der Angaben zum Umsatz in der Eigenerklärung u. a. durch Jahresabschlüsse).
Vor diesem Hintergrund wäre der Antragsgegner gehalten gewesen, seine Vorgaben zu präzisieren, um unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten zu vermeiden. Soweit er lediglich von den Bietern Angaben zu Umsätzen der Kalenderjahre 2021, 2022 und 2023 fordern wollte, ohne dass hierfür ein Jahresabschluss vorliegen muss, hätten er dies unmissverständlich zum Ausdruck bringen müssen. Der Antragstellerin kann nicht angelastet werden, dass ihre Angaben unrichtig gewesen wären. Der Antragsgegner war, wie erwähnt, aufgrund seiner unklaren und damit nicht wirksamen Forderungen gehindert, das Angebot der Antragstellerin im Rahmen der formellen Eignungsprüfung auszuschließen (vgl. BGH a. a. O.).
Dem Antragsgegner wird vielmehr gemäß § 168 Abs. 1 GWB aufgegeben, das Defizit der Vergabeunterlagen auszugleichen und im Rahmen der erneuten Prüfung und Wertung der Angebote der Antragstellerin Gelegenheit geben, die Umsatzangaben für 2023 nachzureichen.
Der Antragstellerin wurde keine Akteneinsicht gewährt, da sie ohnehin über alle zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage erforderlichen Unterlagen verfügt.
Gemäß § 166 Abs. 1 S. 3 GWB hat die Vergabekammer mit Zustimmung der Beteiligten nach Lage der Akten entschieden.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
Für Amtshandlungen der Vergabekammer werden Kosten (Gebühren und Auslagen) zur Deckung des Verwaltungsaufwandes erhoben; § 182 Abs. 1 GWB.
Gemäß § 182 Abs. 3 S. 1 GWB hat ein Beteiligter die Kosten zu tragen, soweit er im Verfahren unterliegt. Vor diesem Hintergrund ist der Antragsgegner als Unterlegener anzusehen, da die Antragstellerin mit ihrem Begehren durchgedrungen ist. Es ist daher gerechtfertigt, ihm die Kosten des Nachprüfungsverfahrens aufzuerlegen.
Die Höhe der Gebühren richtet sich nach dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gegenstandes des Nachprüfungsverfahrens.
Ausgehend von der Gebührenformel der Vergabekammern des Landes Sachsen-Anhalt richtet sich vorliegend die Höhe der Verfahrensgebühr nach dem Angebotspreis (brutto) der Antragstellerin für die feststehende Vertragslaufzeit zzgl. den Verlängerungsoptionen, welche mit einem Abschlag von 50% berücksichtigt werden. Dies ergibt eine Basisgebühr in Höhe von XXX Euro. Aus Billigkeitsgründen (§ 182 Abs. 2 S. 1 GWB) wird diese Gebühr um 25% reduziert, da von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden konnte. Darüber hinaus besteht kein Anlass, die Gebühren weiter zu ermäßigen. Unter Zugrundelegung dessen ist die Verfahrensgebühr abschließend auf XXX Euro festzusetzen.
Über die Gebühr hinausgehende Auslagen sind nicht angefallen.
Der Antragsgegner ist jedoch von der Pflicht zur Entrichtung der Gebühren gemäß § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 Verwaltungskostengesetz vom 23. Juni 1970 in der am 14. August 2013 geltenden Fassung befreit.
Die Beigeladene hat vorliegend keine Anträge gestellt und sich auch ansonsten am Verfahren nicht aktiv beteiligt. Es besteht daher kein Grund, sie in die Kostenentscheidung einzubeziehen.
Gemäß § 182 Abs. 4 S. 1 GWB hat der Antragsgegner die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung der Antragstellerin entstandenen notwendigen Aufwendungen zu tragen, weil er im Nachprüfungsverfahren unterlegen ist.
Angesichts der sachlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falls war die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für die Antragstellerin notwendig (vgl. § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i. V. m. § 80 Abs. 2 VwVfG).
IV.
Der ehrenamtliche Beisitzer, Herr XXX, hat den Vorsitzenden und die hauptamtliche Beisitzerin der Vergabekammer ermächtigt, den Beschluss allein zu unterzeichnen. Ihm lag dieser Beschluss hierzu vor.
(Rechtsbehelfsbelehrung)
Aktuelle Entscheidungen
Vergaberecht ist ein spannendes und anspruchsvolles Thema. Behalten Sie jederzeit den Überblick: Hier finden Sie interessante vergaberechtliche Entscheidungen der letzten 14 Tage.
Archiv
Gewusst, wo: Vergaberechtsentscheidungen, die älter als 14 Tage sind, können Sie bei unserem Partner vpr-online - der Datenbank für Vergabepraxis und Vergaberecht - abonnieren.
Was sind "abgeschlossene Geschäftsjahre"?
Was sind "abgeschlossene Geschäftsjahre"?
Anforderungen an Ausschluss wegen versuchter unzulässiger Beeinfl...
Anforderungen an Ausschluss wegen versuchter unzulässiger Beeinflussung?
Melden Sie sich jetzt an unter www.vpr-online.de, um sämtliche Entscheidungen im Volltext lesen zu können.
vpr-online ist DIE Datenbank für öffentliche Auftraggeber und Bieter sowie für alle Berater auf den Gebieten des Vergaberechts.
Mit vpr-online haben Sie außerdem jederzeit und überall Zugriff auf über 5.800 VPR-Beiträge nach dem 1-Seiten-Prinzip, über 12.118 Entscheidungen im Volltext, Arbeitshilfen, Materialien und vieles mehr.
VK Berlin
Beschluss
vom 25.04.2025
VK B 1-1/25
1. Die Vergabestelle überschreitet die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums bei der Angebotswertung erst dann, wenn sie entweder ein vorgeschriebenes Verfahren nicht einhält, wenn sie von einem unzutreffenden oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, wenn sachwidrige Erwägungen für die Entscheidung verantwortlich waren oder wenn bei der Entscheidung ein sich sowohl im Rahmen des Gesetzes als auch im Rahmen der Beurteilungsermächtigung haltender Beurteilungsmaßstab nicht zutreffend angewandt wurde.
2. Der Ausschluss wegen einer nachweislich schweren Verfehlung, durch die die Integrität des Unternehmens infrage gestellt wird, stellt sich schon dann als rechtswidrig dar, weil die erforderliche Prognoseentscheidung nicht getroffen wurde.
3. Der Ausschluss wegen Versuchs einer unzulässigen Beeinflussung der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers setzt einen Versuch voraus, der strafrechtlich relevant ist oder in der Schwere einer schweren beruflichen Verfehlung gleichkommt.
VK Berlin, Beschluss vom 25.04.2025 - VK B 1-1/25
Tenor:
1. Das Verfahren wird in den Stand vor Wertung der Angebote zurückversetzt.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin. Die Beigeladene trägt ihre Kosten selbst.
3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragstellerin war notwendig.
4. Die Verfahrensgebühr wird auf ... Euro festgesetzt. Der Antragsgegner ist von der Zahlung der Gebühren befreit.
Gründe:
I.
Der Antragsgegner schrieb mit Bekanntmachung vom 4. Oktober 2024 (ABl. S OJ S 194/2024 04/10/2024; Veröffentlichungsnummer der Bekanntmachung 599992-2024) sowie Änderungsbekanntmachung vom 30. Oktober 2024 (ABl. S OJ S 212/2024 0/10/2024; Veröffentlichungsnummer der Bekanntmachung 661469-2024) einen Rahmenvertrag über die Bereitstellung von E-Mail-Postfächern für bis zu 56.000 pädagogische Beschäftigte des Landes Berlin europaweit aus. Durchgeführt wird ein Offenes Verfahren gemäß § 119 Abs. 3 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) i.V.m. § 15 der Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (VgV). Die Schätzung des Antragsgegners zum Wert der Rahmenvereinbarung beläuft sich gemäß Ziffer 2.1.3. der Änderungsbekanntmachung (Anlage Ast 2) auf EUR 7.568.000,00 netto. Der Höchstwert der Rahmenvereinbarung wird dort mit EUR 11.915.200,00 netto beziffert.
Gemäß Änderungsbekanntmachung vom 30. Oktober 2024 (Anlage Ast 2) lief die Frist zur Angebotsabgabe bis 15. November 2024. Die Antragstellerin und die Beigeladene reichten in dem Vergabeverfahren jeweils fristgemäß ein Angebot über die Vergabeplattform ein.
Die Vergabeunterlagen enthalten technische Vorgaben an die Verschlüsselung und den Datenschutz bei der Bereitstellung der ausschreibungsgegenständlichen E-Mail-Postfächer. Konkret legt Ziffer 2. a) der Leistungsbeschreibung (Anlage Ast 3) allgemeine Anforderungen an die bereitzustellenden Eigenschaften bzw. Leistungen des Auftragnehmers fest.
Konkret heißt es dort:
"Die Lösung ist vom Auftragnehmer oder durch einen Subunternehmer auf eigenen Servern gemäß DSGVO und dem anliegenden Vertrag zur Auftragsdatenverarbeitung zu hosten und zu pflegen.
Bereitzustellende Eigenschaften/Leistungen:
[...]
PGP- und S/MIME-Verschlüsselung im Web Mailer mit Hilfe eines Web-Guards
[...]."
In der Vergabeakte war zudem ein Vermerk vom 06.01.2024 zum Verständnis des Begriffs des Web-Guards enthalten. Dieser führte aus:
"Die E-Mail für pädagogische Beschäftigte (Lehrkräftemail) wird und soll weiterhin ausschließlich mit einem Webmailer umgesetzt werden. Gemäß Schuldatenverordnung sind E-Mails mit personenbezogenem Inhalt zu verschlüsseln. Die zwei Verschlüsselungstechniken PGP und S/MIME sollen zum Einsatz kommen, da:
1) PGP offen verfügbar ist und somit die Verschlüsselung gegenüber den Erziehungs- oder Sorgeberechtigten erfolgen kann.
2) S/MIME das eingesetzte Verfahren in der Berliner Verwaltung ist und somit sicher mit der Verwaltung kommuniziert werden kann.
Da eine Übermittlung besonders schutzbedürftiger Daten nicht ausgeschlossen werden kann, muss gemäß § 18 Abs. 4 SchuldatenVO eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung gewährleistet sein. Vor diesem Hintergrund versteht der Fachbereich unter dem Begriff "Web-Guard" eine Lösung, die die geforderte Verschlüsselung einer E-MailNachricht innerhalb eines Browsers oder Webmailers vornimmt. Die Verschlüsselung wird dabei nicht mit Hilfe eines E-Mail-Client wie Thunderbird oder Outlook umgesetzt, sondern erfolgt ohne eine solchen E-Mail-Client durch den Web-Guard innerhalb der Browsernutzung.
Damit soll geforderte Web-Guard sicherstellen, dass Mails mit personenbezogen Daten ohne Lesemöglichkeit durch eine dritte Person gespeichert, gelesen und gesendet werden können.
Dies gilt auch für Angriffe/Abfangen der Nachricht während der Übermittlung sowie Zugriff durch bspw. Administratorinnen oder Administratoren der Serversysteme. Ebenso soll durch Hacking bspw. der Serverspeicher so der Zugriff auf die Nachrichten verhindert werden.
Aufgrund der notwendigen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung (siehe oben) sind die gespeicherten Mails samt Anhang damit stets verschlüsselt gespeichert und nur durch einen Nutzer/eine Nutzerin mittels persönlich bekanntem Passwortes entschlüssel- und lesbar."
Gemäß Ziffer 3.4. der Leistungsbeschreibung hatte die Bereitstellung der E-Mail-Postfächer unter Einhaltung der vorstehenden technischen Vorgaben innerhalb von drei Wochen nach Zuschlagserteilung zu erfolgen.
Der Preis war das einzige Zuschlagskriterium.
Zur Ermittlung des Wertungspreises wird gemäß Ziffer 5 der Leistungsbeschreibung
"- für die Position 1 mit einer Anzahl von 40.000 bereitzustellenden E-Mail-Konten,
- für die Positionen 2 und 3 des Preisblattes mit jeweils 1.000 Stunden Zeitaufwand und
- für die Position 4 mit einer Anzahl von 40.000 Erweiterungsoptionen gerechnet."
Abweichend hiervon fanden sich im Preisblatt in den zu bepreisenden Positionen 1 bis 4 durchweg andere Einheiten und Stückzahlen als Grundlage des preislichen Angebotes der Bieter. In Position 1 wurde ein Paket von "500 Stk. E-Mail-Postfächer für pädagogische Beschäftigte" statt 40.000 bereitzustellende E-Mail-Konten zur Bepreisung durch die Bieter vorgegeben. In den Positionen 2 und 3 wurden jeweils nur eine Stunde - statt der in Ziffer 5 der Leistungsbeschreibung angegebenen jeweils 1000 Stunden - als Einheit genannt. Und in Position 4 war "1 Stk" Erweiterungsoption statt 40.000 Erweiterungspositionen gemäß Ziffer 5 der Leistungsbeschreibung zu bepreisen. Die einzugebenden Preise ergeben ausweislich des im Preisblatt in der letzten Zeile verwendeten Begriffs den "Endbetrag". Eine Verformelung des Preisblattes, welche die Vorgaben aus Ziffer 5 der Leistungsbeschreibung bei der Berechnung des Endbetrags im Preisblatt berücksichtigt, ist nicht hinterlegt.
Zu der Ermittlung des Wertungspreises wurde eine Bieterfrage gestellt. Eine vollständige Beantwortung der Frage erfolgte in der laufenden Nummer 44 des Fragen-Antworten-Katalogs nicht.
Der Antragsgegner informierte die Antragstellerin mit Vorabinformationsschreiben vom
19.12.2024, dass ihr Angebot nicht den Zuschlag erhalten werde.
Als Begründung teilte der Antragsgegner der Antragstellerin hierin mit:
"Sie haben nicht das wirtschaftlichste Angebot eingereicht. Als Zuschlagskriterium diente nur der Angebotspreis. Von 5 zu wertenden Angeboten haben Sie in der Wertung den dritten Platz belegt."
Das Vorabinformationsschreiben nannte als Zuschlagsprätendentin ein Unternehmen, das mit einem anderen gemeinsam die Bietergemeinschaft bildete, die das preislich beste Angebot gemacht hatte. Als frühesten Zeitpunkt der Zuschlagserteilung teilte der Antragsgegner Dienstag, 31.12.2024, mit.
Die Antragstellerin rügte mit Schreiben vom 23.12.2024, versandt am gleichen Tag per EMail und per Vergabeplattform, die unzulässige faktische Verkürzung der 10-tägigen Wartefrist gemäß § 134 Abs. 2 S. 2 GWB aufgrund von Feiertagen und Wochenenden.
Mit Schreiben vom 24.12.2024 forderte die Antragstellerin den Antragsgegner zur Versicherung einer späteren Zuschlagserteilung unter Fristsetzung bis Freitag, 27. Dezember 2024, 10:30 Uhr auf. Daraufhin versicherte der Antragsgegner mit E-Mail vom 27. Dezember 2024, den Zuschlag nicht vor dem 07.01.2025 zu erteilen.
Mit Schreiben vom 27.12.2024, versandt am gleichen Tag per E-Mail und per Vergabeplattform, erhob die Antragstellerin über die Verfahrensbevollmächtigte weitere drei Rügen.
Diese betrafen die vergaberechtswidrige Zuschlagsentscheidung zugunsten der benannten angeblichen Zuschlagsbieterin, deren Angebot die Vorgaben der Leistungsbeschreibung an die PGP und S/MIME-Verschlüsselung im Web Mailer mit Hilfe eines Web-Guards und den Datenschutz nicht erfülle und daher vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden müsse. Zudem rügte die Antragstellerin die vergaberechtswidrige Wertung von gemäß Absageschreiben vom 19. Dezember 2024 weiteren drei - das Angebot der Antragstellerin ist insoweit ausgenommen - Angeboten, die gleichermaßen nicht die Vorgaben der Leistungsbeschreibung an die PGP- und S/MIME-Verschlüsselung im Web Mailer mit Hilfe eines Web-Guards und den Datenschutz erfüllten. Schließlich rügte die Antragstellerin die Intransparenz des Zuschlagskriteriums Preis.
Der Antragsgegner antwortete mit E-Mail vom 03.01.2025:
"[...] um den Vorgang unter Hinzuziehung der technischen Hinweise in der Rüge Ihres Mandanten zufriedenstellend, auch unter dem Gesichtspunkt der Feiertagsproblematik, bewerkstelligen zu können, sichere ich Ihnen zu, den Zuschlag nicht vor dem
10.01.2025 10:00 Uhr zu erteilen."
Mit Schreiben vom 8. Januar 2025 half die Antragsgegnerin sämtlichen von der Antragstellerin erhobenen Rügen nicht ab.
Mit Schreiben vom 09.01.2025 reichte die Antragstellerin den Nachprüfungsantrag ein.
Mit Schreiben vom 17.03.2025 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zur Stellungnahme zu einem Ausschluss des Angebots der Antragstellerin gem. §§ 124. Abs. 1 Nr. 3; Nr. 6, Nr. 9a und Nr. 9c GWB auf. Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB bezog sich auf datenschutzrechtliche Verstöße wegen der verspäteten Übergabe personenbezogener Daten auf Weisung des Antragsgegners im Rahmen der Beendigung des bestehenden Vertrages zum 07.03.2025. Dem vorausgegangen war ein Mailwechsel, der am 11.02.2025 begann und mit der Übermittlung der Daten am 20.03.2025 endete. Die Antragstellerin bat wiederholt um die IP-Adresse und den SSH-Key, um die Daten übergeben zu können, der Antragsgegner forderte seinerseits die IP-Adresse und den SSH-Key von der Antragstellerin, übermittelte die IPAdresse und den SSH-Key aber erst am 13.03.2025 an die Antragstellerin.
Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB bezog sich auf den Ausschluss wegen des Bestehens eines Alleinstellungsmerkmals im Rahmen einer Beratung bei der Erstellung der Leistungsbeschreibung.
Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 9a GWB bezog sich unter anderem auf eine Beeinflussung der Entscheidungsfindung durch eine Mail an den Antragsgegner vom 28.11.2024 im Rahmen der Angebotsauswertung, sowie bezüglich der Kommunikation mit der Vergabestelle nach Absendung des Vorinformationsschreibens hinsichtlich der Verlängerung der Wartefrist. Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 9c GWB bezog sich auf die Übermittlung falscher Informationen über den Inhalt der Leistungsbeschreibung im Rahmen der Mail vom 28.11.2024.
Die in der Vergabeakte nicht enthaltene Mail lautete:
"ich bin diese Woche leider noch nicht in der Lage, so kurzfristig ein Verlängerungsangebot vorzulegen. Ich hoffe, ich kann Ihnen dies nach dem Wochenende übermitteln und bitte um Verständnis und Geduld.
Bezügl. der aktuellen Leistungsbeschreibung sei mir noch erlaubt, darauf hinzuweisen:
*) Nicht nur die SSO-lntegration ins Berliner Schulportal, auch die eine Umsetzung von PGP und S/MIME als Webguard mit serverseitigem Schlüsselspeicher, serverseitigen automatischen PGP-Keyerzeugung und S/MIME lmport ist lt. Leistungsbeschreibung als bereitzustellende Eigenschaft *binnen 3 Wochen nach Zuschlagserteilung* funktionsfähig bereitzustellen.
Eine solche Implementierung ist üblicherweise sehr aufwändig und benötigt erhebliche Entwicklungszeit, wenn man nicht auf vorhandener Funktionalität aufsetzen kann. Auch die notwendige Überprüfung des Codes ist bei einer solch sensiblen Funktion aufwändig und muß mit Ruhe und Bedacht erfolgen.
Die Nutzung des weit verbreiteten und üblicherweise eingesetzten Browser-Plugins "Mailvelope" ist ein Schlüsselspeicher im lokalen Browser-System des Nutzers und ist keine serverseitige Implementierung als WebGuard, wie von der Leistungsbeschreibung gefordert."
Mit Schreiben vom 27.03.2025 nahm die Antragstellerin Stellung zu dem Anhörungsschreiben.
Mit Schreiben vom 08.04.2025 schloss die Antragstellerin die wegen der in dem Anhörungsschreiben vom 17.03.2025 genannten Tatbestände aus. Darüber hinaus bezog sie sich auf eine in dem Anhörungsschreiben nicht genannte E-Mail der Antragstellerin an die zuständige Senatorin vom 03.03.2025.
Mit Schreiben vom 09.04.2025 rügte die Antragstellerin den Ausschluss gegenüber dem Antragsgegner. Die Antragstellerin trägt vor, dass nach ihrer Kenntnis zum Zeitpunkt der Einreichung des Nachprüfungsantrags nur sie in der Lage sei, die Leistungsbeschreibung zu erfüllen und eine Ver- und Entschlüsselung mit PGP und S/MIME im Webmailer mit Hilfe eines WebGuards durchzuführen, demnach alle anderen Bieter ausgeschlossen werden müssten. Zwar könnten auch andere Anbieter die Software einsetzen oder eine eigene Lösung betreiben, die die Vorgaben der Leistungsbeschreibung umzusetzen in der Lage sei, dies sei nach ihrer Kenntnis, auch auf Nachfrage bei dem Hersteller der Software, zum Zeitpunkt der Abfrage nicht der Fall gewesen. Jedenfalls hätte aber die Zeit zwischen Bekanntmachung der Ausschreibung und dem Beginn der Leistungserbringung ausgereicht, die Software zu betreiben, auch Ausgleichsmaßnahmen durch einen längeren Zeitraum zwischen vorgesehenem Zuschlag und dem Beginn der Leistungserbringung hätten ein bestehendes Alleinstellungsmerkmal ausgleichen können.
Die Antragstellerin trägt vor, dass sämtliche Tatbestände zu den Ausschlusstatbeständen nicht vorlägen.
Bei dem Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB fehle bereits die notwendige Prognoseentscheidung. Des Weiteren seien die Verzögerungen bei der Übertragung der Daten darauf zurückzuführen, dass der Antragsgegner erst nach Ende der Vertragslaufzeit die IP-Adresse sowie die SSH-Keys für die Übertragung der Daten zur Verfügung gestellt habe, daraufhin seien die Daten unmittelbar bereitgestellt worden.
Bei dem Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB sei schon der Tatbestand nicht erfüllt, da die Antragstellerin kein Alleinstellungsmerkmal besessen habe und auch nicht besitze. Es habe auch keine Einflussnahme auf die Erstellung der Leistungsbeschreibung, insbesondere auf den Begriff des Web-Guards, stattgefunden.
Bei dem Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 9a GWB habe keine Beeinflussung des Antragsgegners stattgefunden. Weder habe die Antragstellerin den Antragsgegner durch die Mail vom 28.11.2025 noch durch den Kontakt nach Versendung des Vorinformationsschreibens unzulässig zu beeinflussen. Der Ausschluss könne auch nicht auf die Mail an die Senatorin gestützt werden, da diese nicht Gegenstand der Anhörung vom 17.03.2025 gewesen sei.
Des Weiteren sei das Kriterium Preis intransparent, da die Vorgaben der Leistungsbeschreibung und des Preisblattes von unterschiedlichen Mengenvorgaben ausgingen.
Des Weiteren sei das Angebot der Beigeladenen nicht kostendeckend und deshalb auszuschließen.
Die Antragstellerin beantragt,
1. dem Antragsgegner aufzugeben, das Vergabeverfahren in den Stand vor Angebotswertung zurückzuversetzen und das Angebot der Beigeladenen wegen Nichterfüllung der technischen Vorgaben an die Verschlüsselungstechnik und Unauskömmlichkeit von der Wertung auszuschließen. Zudem sind die weiteren drei in der Wertung befindlichen Bieter wegen Nichterfüllung der technischen Vorgaben an die Verschlüsselungstechnik auszuschließen und der Zuschlag an die Antragstellerin zu erteilen,
2. hilfsweise: dem Antragsgegner aufzugeben, das Vergabeverfahren in den Stand vor Angebotswertung zurückzuversetzen und die Angebotswertung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen,
3. hilfsweise: dem Antragsgegner aufzugeben, das Vergabeverfahren in den Stand vor Veröffentlichung der EU-Bekanntmachung zurückzuversetzen und nach Korrektur der Vorgaben zur Ermittlung des Wertungspreises auf dieser nunmehr transparenten Grundlage erneut Angebote im Wettbewerb abgeben zu lassen.
4. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlichen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen,
5. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären.
Der Antragsgegner beantragt,
1. den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen,
2. die Kosten des Verfahrens einschließlich der dem Antragsgegner zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Kosten der Antragstellerin aufzuerlegen,
3. festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für den Antragsgegner notwendig war.
Der Antragsgegner trägt vor, der Antrag sei unzulässig, soweit die Antragstellerin auf die Intransparenz des Wertungskriteriums "Preis" abstellt, da dies gem. § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB spätestens vor Ablauf der Angebotsfrist hätte gerügt werden müssen. Dabei handele es sich um einen Mangel der Vergabeunterlagen, der ausschließlich kaufmännischer Natur sei. Unabhängig von jeglicher rechtlichen Würdigung sei sich bei der erforderlichen objektiven Betrachtung jeder Kaufmann darüber im Klaren, dass im Rahmen einer Angebotsbewertung ausschließlich aufgrund des Angebotspreises die Ermittlung des Wertungspreises von zentraler Bedeutung sei. Von jedem Kaufmann und damit auch von der Antragstellerin könne daher im Rahmen der Angebotserstellung erwartet werden, dass er sich mit den in den Vergabeunterlagen ausgeführten Regeln zur Ermittlung des Wertungspreises intensiv auseinandersetze. Da es sich hierbei um ausschließlich mathematisch-kaufmännische Fragen handele, sei für einen durchschnittlichen Kaufmann dabei auch erkennbar, ob die Ausführungen zur mathematischen Ermittlung des Wertungspreises transparent und nachvollziehbar sind.
Entgegen des Vortrags der Antragstellerin sei nicht allein das von ihr eingesetzte Produkt in der Lage, die Vorgaben der Leistungsbeschreibung zu erfüllen. Alle Bieter hätten die Erfüllung der Vorgaben der Leistungsbeschreibung zugesagt. Darauf müsse der Auftraggeber vertrauen dürfen. Auch durch Einsatz eines Crypto-Gateways oder entgegen dem Schreiben vom 03.12.2024 sei auch der Einsatz von Mailvelope vereinbar mit den Vorgaben des Leistungsverzeichnisses. Dort finde eine Verschlüsselung im Browser und damit auf dem Webmailer statt. Würde tatsächlich nur im Webmailer verschlüsselt, liege schon gar keine geforderte Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vor.
Es gebe auch keine Indizien für ein Unterkostenangebot der Beigeladenen.
Mit Beschluss vom 25.02.2025 wurde dem hauptamtlichen Beisitzer Dr. Kern das Verfahren zur alleinigen Entscheidung übertragen.
Mit Beschluss vom 25.02.2025 wurde die Beigeladene dem Verfahren beigeladen.
Mit Schreiben vom 26.02.2025 erteilte der hauptamtliche Beisitzer einen rechtlichen Hinweis.
Mit Beschluss vom 06.05.2025 verlängerte die Vorsitzende die Entscheidungsfrist letztmalig bis zum 06.05.2025.
Die Vergabeakten des Antragsgegners lagen der Kammer vor und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Verfahrensakte der Vergabekammer nebst der beigezogenen Vergabeakte verwiesen.
II.
Der Nachprüfungsantrag ist teilweise zulässig und soweit er zulässig ist, auch begründet.
1. Soweit die Antragstellerin einen Verstoß gegen das Transparenzgebot rügt, ist dieser gem. § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB präkludiert. Maßstab dafür ist die Erkenntnismöglichkeit eines durchschnittlichen Unternehmens aus dem jeweiligen Marktsegment (vgl. KG, Beschluss vom 01.03.2024 - Verg 11/22). Die gerügten Widersprüche zwischen Leistungsbeschreibung und Preisblatt ergeben sich aus den Vergabeunterlagen und sind damit vor Ablauf der Angebotsfrist zu rügen. Da diese sich auf rein kaufmännische und technische Fragen beschränken, keiner juristischen Wertung bedürfen und auch bei der Kalkulation des Angebots zwangsläufig auffallen, sind sie daher von jedem Unternehmen ohne weiteres erkennbar und damit auch vor Ablauf der Angebotsfrist zu rügen. Dies ist vorliegend nicht geschehen, daher ist die Rüge präkludiert.
Soweit die Antragstellerin die Auswahl der Beigeladenen als Zuschlagsbieterin rügt und gegen den Ausschluss aus dem Vergabeverfahren vorgeht, sind die Rügen zulässig. Insbesondere ist die Antragstellerin durch die Abgabe eines eigenen Angebots antragsbefugt, die Vergabekammer Berlin ist örtlich zuständig und der Schwellenwert gem. § 106 GWB überschritten.
2. Soweit der Nachprüfungsantrag zulässig ist, ist er auch begründet. Die Antragstellerin wurde von dem Antragsgegner durch die Art und Weise der Angebotswertung (a.) sowie durch den Ausschluss vom 08.04.2025 (b.) in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Das Vergabeverfahren war daher in den Stand vor Wertung der Angebote zurückzuversetzen.
a. Bei der Wertung der Angebote genießen öffentliche Auftraggeber einen Beurteilungsspielraum, der von den Nachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. nur BGH, Urteil vom 04.04.2017; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.03.2017; OLG München, Beschluss vom 17.09.2015. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums überschreitet die Vergabestelle erst dann, wenn sie entweder ein vorgeschriebenes Verfahren nicht einhält, wenn sie von einem unzutreffenden oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, wenn sachwidrige Erwägungen für die Entscheidung verantwortlich waren oder wenn bei der Entscheidung ein sich sowohl im Rahmen des Gesetzes als auch im Rahmen der Beurteilungsermächtigung haltender Beurteilungsmaßstab nicht zutreffend angewandt wurde (vgl. OLG Frankfurt a. M. VergabeR 2009, 629 (636); OLG Schleswig, Beschl. v. 20.3.2008 - 1 Verg 6/07; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.4.2009 - Verg 76/08; VK Münster, Beschl. v. 16.12.2010 - VK 9/10; Beschl. v. 14.1.2010 - VK 24/09).
Vorliegend hat der Antragsgegner diese Grenzen überschritten, da er die eigenen Vorgaben der Leistungsbeschreibung und des Schreibens vom 03.12.2024 nicht beachtet hat, indem er davon ausging, dass das Angebot der Beigeladenen die Bedingungen der Leistungsbeschreibung erfüllen würde. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat das Schreiben vom 03.12.2024 auch nicht die Anforderungen der Leistungsbeschreibung erweitert, so dass es unbeachtlich wäre. Das ergibt sich schon aus der Darstellung der Beigeladenen in der Preisaufklärung, die darstellt, dass sie eine von der Standardkonfiguration von Mailvelope abweichende Konfiguration mit einer zentralen Schlüsselverwaltung angeboten hat. Ob die Beigeladene tatsächlich die Vorgaben der Leistungsbeschreibung erfüllt , hat der Antragsgegner anlässlich des Ergebnisses der Preisaufklärung nicht hinlänglich geprüft, jedenfalls aber hat er diese Prüfung, falls sie stattgefunden haben sollte, entgegen § 8 Abs. 2 Nr. 5 VgV nicht dokumentiert. Die aus dem Rügeantwortschreiben vom 07.01.2025 ersichtliche Prüfung befasste sich erkennbar nicht mit der Frage, ob es sich bei dem von der Beigeladenen angebotenen Verfahren um einen Web-Guard im Sinne der Ziffer 2.a) der Leistungsbeschreibung handelte. Dem Antragsgegner ist zuzustimmen, dass der Begriff eines Web-Guards ungewöhnlich ist und jedenfalls kein allgemeines Verständnis dafür existiert. Eine Recherche über Google förderte unter dem Begriff sehr diverse Produkte von VPN über Virenscanner und Kinder- und Jugendschutzsoftware bis zu Pferdekoppeln für eine Erweiterung des Spiels "Minecraft" hervor, ein allgemeines Verständnis des Begriffs besteht damit nicht. Der Antragsgegner stellte in dem Vermerk vom 06.01.2025 sein Begriffsverständnis dar. Danach versteht der Antragsgegner unter einem Web-Guard eine Lösung, die "die geforderte Verschlüsselung einer E-Mail-Nachricht innerhalb eines Browsers oder Webmailers vornimmt."
Im Gegensatz zu diesen Anforderungen verwies der Antragsgegner in der Rügeantwort vom 07.01.2025 nur darauf, dass sich mit einem Web-Guard eine Ende-zu-Ende Verschlüsselung darstellen lasse.
Die Vorgabe der Leistungsbeschreibung ging aber über eine Ende-zu-Ende Verschlüsselung hinaus, namentlich die Anforderung, dass die Verschlüsselung im Webmailer stattfindet. Auch die weiteren Erwägungen zu Crypto-Gateway-Verfahren aus der Rügeantwort vom 07.01.2025 sind nicht geeignet, ein Web-Guard, wie es vom Antragsgegner im Vermerk vom 06.01.2025 verstanden und ausgeschrieben wurde, umzusetzen, da in diesem Fall die Verschlüsselung gerade nicht im Webmailer stattfindet. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners durfte er sich nicht darauf verlassen, dass die Beigeladene und die übrigen Bieter das Leistungsversprechen erfüllen würden. Dies folgt bereits daraus, dass der Antragsgegner mit Schreiben jeweils vom 03.12.2024 die Antragstellerin und die Beigeladene darauf hingewiesen hat, dass eine Verschlüsselung mit "Mailvelope" die Anforderungen an die Leistungsbeschreibung nicht erfülle und dass es sich damit nicht als Web-Guard im Sinne der Leistungsbeschreibung darstelle. Das Schreiben vom 03.12.2024 mit der Anforderung eines technischen Handbuchs, das nicht mit der Angebotsabgabe gefordert waren, lässt nicht erkennen, dass der Antragsgegner sich auf das bloße Leistungsversprechen in den Angeboten verlassen wollte. Wenn der Antragsgegner sich aber nicht mit dem bloßen Leistungsversprechen zufriedengeben möchte, muss er die von ihm eingeforderten und von dem Bieter gelieferten Angaben auch prüfen und dies dokumentieren. Bei dem Schreiben vom 03.12.2024 handelte es sich auch entgegen der Argumentation des Antragsgegners nicht um eine Erweiterung der Anforderungen, die nicht von der Leistungsbeschreibung gedeckt war. Diese forderte eine Verschlüsselung im Webmailer, nicht im Browser. Eine Verschlüsselung im Webmailer kann jedoch nicht mit einem Browser-Plugin erfolgen.
Nach der Antwort der Beigeladenen vom 09.12.2024, in der diese darlegt, dass sie ein bestimmtes Produkt nutzen werde, konnte er sich auch nicht mehr auf das bloße Leistungsversprechen verlassen, die Antwort legt vielmehr angesichts des Schreibens vom 03.12.2024 nahe, dass die Beigeladene das Leistungsversprechen, wie der Antragsgegner es in seinem Schreiben vom 03.12.2024 zum Ausdruck brachte, gerade nicht erfüllen werde. Eine entgegenstehende Bewertung des Antwortschreibens durch den Antragsgegner ergibt sich auch entgegen § 8 Abs. 2 Nr. 5 VgV nicht in der Vergabeakte. Diese schweigt vielmehr zu dem Widerspruch zwischen dem Inhalt der Aufforderung zur "Preisaufklärung" und deren Ergebnis. Auch das Rügeantwortschreiben vom 07.01.2025 geht vielmehr nicht auf das Ergebnis der "Preisaufklärung" ein.
Vor diesem Hintergrund überzeugt auch das Schreiben des Antragsgegners vom 23.01.2025 nicht, da dort entgegen der Auffassung des Antragsgegners aus dem Schreiben vom 03.12.2024 sowie dem Vermerk vom 06.01.2025 in der Vergabeakte behauptet wird, Mailvelope könne die Anforderungen der Leistungsbeschreibung erfüllen.
Auch der Vortrag im Nachprüfungsverfahren ersetzt oder ergänzt die notwendige Darlegung der Prüfung der Konformität des Angebots der Beigeladenen mit den Anforderungen der Leistungsbeschreibung nicht. Soweit der Antragsgegner im Schreiben vom 14.02.2025 darzulegen versucht, dass eine Verschlüsselung mit Mailvelope die Anforderungen der Leistungsbeschreibung erfüllt, trifft es zu, dass allein die Verwendung des Begriffs "Webmailer" keine Aussage darüber trifft, ob die Verschlüsselung im Browser auf dem Client erfolgt oder auf dem Server. Der Vermerk vom 06.01.2025 unterscheidet bei Nutzung eines Web-Guards zwischen einer Ver- und Entschlüsselung im Browser oder im Webmailer und sieht diese damit gerade nicht als identisch an:
"Vor diesem Hintergrund versteht der Fachbereich unter dem Begriff "Web-Guard" eine Lösung, die die geforderte Verschlüsselung einer E-Mail-Nachricht innerhalb eines Browsers oder Webmailers [Hervorhebung durch den Unterzeichner] vornimmt."
Nach dem Verständnis des Antragsgegners aus dem Vermerk vom 06.01.2025 kann ein WebGuard also entweder eine Ver- und Entschlüsselung im Browser oder im Webmailer darstellen. Die Leistungsbeschreibung fordert unter diesen Möglichkeiten die Verschlüsselung im Webmailer, also gerade nicht im Browser. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners erfolgt die Verschlüsselung mit einem Browser-Plugin wie von der Beigeladenen angeboten allerdings nicht wie in der Leistungsbeschreibung gefordert im Webmailer, sondern auf dem Client im Browser. Dass eine Verschlüsselung im Client gerade nicht erwünscht war ergibt sich auch daraus, dass ansonsten die Anforderung der Leistungsbeschreibung, die Verschlüsselung müsse im Webmailer stattfinden, überflüssig wäre. Denn die Nutzung von E-Mail-Clients war von vornherein durch den Antragsgegner in der Leistungsbeschreibung ausgeschlossen und eine Verschlüsselung kann bei der Nutzung eines Webmailers nur entweder im Webmailer selbst oder im Browser auf dem Client stattfinden.
Entgegen der Darstellung des Antragsgegners in dem Schriftsatz vom 14.02.2024 hat auch die Beigeladene nicht dargestellt, dass die Verschlüsselung im Webmailer stattfindet, sondern dass sie durch das Browser-Plugin im Client stattfindet und die verschlüsselten Daten an den Server übertragen werden. Das bestätigt der Antragsgegner auch dadurch, dass er vorträgt, dass bei einer Verschlüsselung, die anders als bei der Nutzung eines Browser-Plugins im Webmailer auf dem Server stattfindet, keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vorliege, weshalb seiner Auffassung nach nur eine Verschlüsselung im Browser geeignet sei, die Anforderung nach einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu erfüllen. Damit kann aber, auch seiner Meinung nach, die Verwendung eines Browser-Plugins nicht zu einer Verschlüsselung im Webmailer führen. Allerdings trifft die Annahme nicht zu, bei einer Verschlüsselung im Webmailer finde keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung statt. Dies ergibt sich aus der Definition des BSI unter https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationenund-Empfehlungen/Onlinekommunikation/Verschluesselt-kommunizieren/E-Mail-Verschluesselung/e-mail-verschluesselung_node.html (abgerufen am 11.04.2025), wonach eine Endezu-Ende-Verschlüsselung von einer Transportverschlüsselung dadurch unterschieden wird, dass nicht die einzelnen Abschnitte des Übertragungswegs verschlüsselt sind, sondern die EMail selbst. Die E-Mail selbst kann jedoch erst dann existieren und verschlüsselt werden, wenn sie vollständig eingegeben worden ist, wofür es jedoch unerheblich ist, ob sie über ein Browser-Plugin oder auf dem Server verschlüsselt wird.
Des Weiteren führt im Unterschied zu dem Begriffsverständnis eines Web-Guards aus dem Vermerk vom 06.01.2025 eine Entschlüsselung mit Mailvelope als Browser-Plugin zwangsläufig dazu, dass die entschlüsselten Inhalte zumindest temporär auf dem Client gespeichert werden, auf dem das Plugin installiert wurde; Anhänge werden zwangsläufig permanent entschlüsselt auf dem Endgerät gespeichert. Zwar trägt der Antragsgegner vor, dass die Speicherung auf einem von dem Antragsgegner gestellten Endgerät erfolge, das über eine verschlüsselte Festplatte verfüge. Jedoch ist ein Webmailer auf jedem Endgerät einsetzbar, auch auf privaten, die in der Regel nicht über eine verschlüsselte Festplatte verfügen, so dass zumindest auf diesen Geräten Daten entgegen der Vorgaben der Leistungsbeschreibung unverschlüsselt vorlägen.
Eine Dokumentation der Prüfung der Angebote bzw. der im Rahmen der Preisprüfung versandten Angaben ist in der Vergabeakte jedenfalls nicht enthalten, so dass sich auch aus der Vergabeakte nicht ergibt, inwiefern der Antragsgegner auf das Leistungsversprechen der Beigeladenen vertrauen konnte.
Nach Durchführung der Preisprüfung durfte der Antragsgegner auch nicht mehr aus anderen
Gründen auf die Leistungszusage der Beigeladenen vertrauen. Dies gilt insbesondere für die Referenzen, aus denen schon nicht hervorgeht, welche technische Lösung die Beigeladene verwendet hat, umso mehr als das Bundesland in dem die Referenzaufträge erbracht werden, keine § 18 Abs. 4 SchuldatenVO entsprechende Vorschrift erlassen hat und dass die Forderungen der Leistungsbeschreibung noch über die Vorgaben des § 18 Abs. 4 SchuldatenVO hinausgehen. Die Angebote geben ebenfalls keinen Hinweis darauf, welche technischen Lösungen zur Erfüllung der Vorgaben der Leistungsbeschreibung verwendet werden sollen. Weder konnte und wollte sich der Antragsgegner angesichts des Vorgehens auf das Leistungsversprechen der Beigeladenen verlassen, noch ist dokumentiert, dass der Antragsgegner auf die mit der Preisaufklärung übersandten Informationen eingegangen ist und diese mit der Leistungsbeschreibung abgeglichen hat. Nach der Preisaufklärung konnte sich der Antragsgegner jedenfalls nicht mehr ungeprüft auf das Leistungsversprechen der Beigeladenen verlassen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Beigeladene derzeit interimsweise den Auftrag durchführt. Mangels näherer Informationen ist davon auszugehen, dass sie dafür die von ihr angebotene Technik nutzt, bei der die Konformität zur Leistungsbeschreibung gerade Streitgegenstand ist.
b. Auch der Ausschluss der Antragstellerin stellt sich in allen Punkten als rechtswidrig dar.
aa. Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB stellt sich schon allein deshalb als rechtswidrig dar, weil die erforderliche Prognoseentscheidung nicht getroffen wurde und weil sie unter dem Ermessensfehler des Ermessensausfalls leidet. Der Antragsgegner hat weder nachgewiesen, dass die Antragstellerin zur Befolgung datenschutzrechtlicher Weisungen vertraglich verpflichtet war, noch dass eine Nichtbefolgung der Weisung zur Übergabe der Mails auf dem Mailserver auf dem alleinigen Verschulden der Antragstellerin und nicht des Antragsgegners beruht.
Ein Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB erfordert nicht nur eine Ermessensausübung sondern auch eine Prognoseentscheidung, aus der hervorgeht, dass nachvollziehbare sachliche Gründe vorliegen, die die Integrität des Unternehmens infrage stellen. Dabei steht dem Auftraggeber ein durch die Kammer nur eingeschränkt kontrollierbarer Beurteilungsspielraum zu (vgl. nur BayObLG, Beschluss vom 09.04.2021 - Verg 3/21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.10.2018 - 15 Verg 6/18). Ob der Antragsgegner hier seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat, bedarf bereits keiner Entscheidung, da weder aus dem Ausschlussschreiben noch aus der Vergabeakte eine irgendwie geartete prognostische Entscheidung erkennbar ist. Bereits dies macht die Ausschlussentscheidung nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB rechtswidrig.
Das dem Antragsgegner bei der Ausschlussentscheidung zustehende Ermessen ist nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern überprüfbar. Vorliegend lässt die Ausschlussentscheidung nicht erkennen, dass überhaupt Ermessen ausgeübt wurde. Die behauptete Abwägung der Umstände leidet bereits daran, dass schon nicht nachgewiesen wurde, dass überhaupt eine Pflicht zur Befolgung datenschutzrechtlicher Weisungen vorgelegen haben soll, der diesbezüglich notwendige Vertrag samt Auftragsverarbeitungsvereinbarung über den Vorauftrag war weder im Vortrag des Antragsgegners noch in der Vergabeakte enthalten, das eingereichte Muster einer Auftragsverarbeitungsvereinbarung war nicht als zu diesem Vertrag gehörig erkennbar und enthielt in der Fußzeile als Datum des Standes den Tag der Übermittlung des Ausschlusses (08.04.2025) an die Antragstellerin. Das Ausschlussschreiben war auch insofern defizitär, als es sich nicht damit auseinandergesetzt hat, dass der Antragsgegner selbst erst nach Ablauf der Vertragslaufzeit die Voraussetzungen für die Übergabe der Daten geschaffen hat, unmittelbar danach wurden die Daten durch die Antragstellerin übergeben. Soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass die Antragstellerin selbst erst verspätet die IPAdresse und den SSH-Key ihres eigenen Systems benannt habe und somit verhindert habe, dass der Antragsgegner die IP-Adresse und den SSH-Key des Servers zur Verfügung gestellt habe, auf den die Daten hochgeladen werden sollten, ist schon unklar und auch nicht vorgetragen, wozu der Antragsgegner diese Daten überhaupt benötigt, um seinerseits eine IP-Adresse und SSH-Key anzugeben. Schlussendlich hat er sie wohl nie erhalten, war dann aber trotzdem in der Lage, die IP-Adresse und den SSH-Key mitzuteilen. Denn - unterstellt die Auftragsverarbeitungsvereinbarung hätte denselben Inhalt wie das vorgelegte Muster - die Antragstellerin war nach dieser Vereinbarung nur dazu verpflichtet, die Daten zu übergeben oder zu löschen, nicht aber, sie zum Abruf bereit zu stellen. Eine IP-Adresse und ein SSH-Key der Antragstellerin für die Übermittlung an den Antragsgegner sind aber nur für einen Abruf durch den Antragsgegner, nicht aber für das Hochladen der Daten durch die Antragstellerin auf einen Server des Antragsgegners notwendig. Diese letztendlich entscheidenden Erwägungen fehlen bei der Ausschlussentscheidung.
Des Weiteren litt der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB an einem Dokumentationsmangel, der auch zu dessen Aufhebung geführt hätte. Ausweislich des Ausschlussschreibens und der Antwort der Antragstellerin auf das Ausschlussschreiben wurde der Ausschluss begründet mit Anforderungen der Daten mit mindestens fünf verschiedenen Mails an die Antragstellerin zwischen dem 11.02.2024 und dem 17.03. 2024, der Vortrag der Antragstellerin lässt noch weitere Mails erkennen. Mit Ausnahme von zwei Mails sind diese Mails und die Antworten der Antragstellerin hierauf allerdings entgegen § 8 Abs. 1 S. 2 VgV weder in der Vergabeakte zu finden noch sind sie Anlagen der an die Vergabekammer übersandten Schreiben. Zwar wird in § 8 Abs. 1 VgV der Ausschluss von Angeboten nicht ausdrücklich genannt, aber auch Fragen bezüglich des Ausschlusses sind Entscheidungen im Vergabeverfahren und damit zu dokumentieren, insbesondere die Kommunikation mit Unternehmen, wenn auf deren Inhalte der Ausschluss gestützt wird. Soweit der Antragsgegner vorträgt, die ersten Mails bezögen sich nur auf - nicht geschuldete - Migrationsunterstützung durch die Antragstellerin, bezieht sich der Antragsgegner in seinem Ausschlussschreiben vom 08.04.2025 auf sämtliche Mails nach dem 11.02.2025.
bb. Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB leidet bereits daran, dass schon nach dem Vortrag des Antragsgegners keine Wettbewerbsverzerrung durch die Forderung nach einem Web-Guard besteht. Deren Vorliegen hat der Antragsgegner auch während des gesamten Nachprüfungsverfahrens und in der mündlichen Verhandlung vehement bestritten. Auch die Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass sie in der Lage gewesen wäre, die Software anzubieten, die die Antragstellerin angeboten hat und damit die behauptete Wettbewerbsverzerrung nicht entstehen zu lassen. Die Antragstellerin und die Beigeladene haben bestätigt, dass es möglich sei, das von der Antragstellerin angebotene Verfahren innerhalb der Laufzeit des Vergabeverfahrens anbieten zu können, selbst wenn dieses vor Veröffentlichung der Bekanntmachung nicht betrieben worden sei. Des Weiteren wurde durch den Antragsgegner auch keine Einbeziehung der Antragstellerin in die Vorbereitung des Vergabeverfahrens nachgewiesen, allein die Durchführung eines Vorauftrags genügt dafür nicht. Der Antragsgegner hat selbst in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass es nicht die Einflussnahme der Antragstellerin war, die zu der Aufnahme der Forderung nach einem Web-Guard in die Leistungsbeschreibung geführt hat, sondern die Lektüre der Handbücher der bereits eingesetzten Lösung. Insoweit ist bereits weder eine Wettbewerbsverzerrung noch eine Einbeziehung der Antragstellerin in die Vorbereitung des Vergabeverfahrens festgestellt.
Soweit der Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung darauf abgestellt hat, dass die Antragstellerin angeblich meinte, sie hätte ein Alleinstellungsmerkmal, reicht dies nach dem Wortlaut des § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB nicht aus.
Eine Abwägung dieser Aspekte findet sich nicht in dem Ausschlussschreiben, neben dem Nichtvorliegen des Tatbestands finden sich auch keine Ermessenserwägungen. Insbesondere ist die Erwägung, dass die Antragstellerin ausgeschlossen werde, da sie an ihrem Nachprüfungsantrag festhalte, noch zusätzlich fehlerhaft. Dies steht in keinem irgendwie gearteten Zusammenhang mit dem Verhalten während der Vorbereitung des Nachprüfungsverfahren oder einem Alleinstellungsmerkmal und stellt demnach auch noch als sachfremde Erwägung Ermessensfehlgebrauch dar.
cc. Soweit die Antragstellerin den Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 9a GWB auf die Einflussnahme während der Vorbereitung des Vergabeverfahrens, die Mail vom 28.11.2024, die Mail vom 03.03.2025, eine Einschaltung der Presse sowie auf Kontakte zur Vergabestelle nach Absendung des Vorabinformationsschreibens abstellt, sind diese entweder nicht geeignet, eine Einflussnahme von ausreichender Schwere zu begründen oder bereits nicht ausreichend nachgewiesen. Überdies liegen auch noch Ermessensfehler bei der Ausschlussentscheidung vor.
Bei dem Tatbestand des § 124 Abs. 1 Nr. 9a GWB handelt es sich um einen sehr weiten Auffangtatbestand, der nach seinem Wortlaut her sehr viele Konstellationen umfassen könnte. Daher ist dieser bereits aus Gründen der Verhältnismäßigkeit restriktiv auszulegen (vgl. VK Sachsen, Beschluss vom 17.03.2021 - 1/SVK/031-20; Ziekow/Völlink/Stolz GWB § 124 Rn. 48). Grundsätzlich sind nur Manipulationsversuche geeignet, einen Ausschlussgrund nach § 124 Abs. 1 Nr. 9a GWB darzustellen, dabei muss das angestrebte Ziel ein rechtswidriges Ergebnis sein (vgl. jurisPK/Summa, § 124 GWB Rn. 189 ff; Immenga/Mestmäcker/Kling GWB § 124 Rn. 107-120; Müller-Wrede/Conrad, § 124 GWB, Rn. 176). Welche Schwere die Einflussnahme haben muss, ist nicht abschließend geklärt, angesichts der Schwere der Folge genügt jedenfalls nicht jedweder Versuch. Dabei muss es sich entweder um den Versuch strafrechtlich relevanten Verhaltens handeln bzw. um Versuche, die in der Schwere einer schweren Verfehlung nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB gleichkommen (VK Sachsen, Beschluss vom 17.03.2021 - 1/SVK/031-20; Ziekow/Völlink/Stolz GWB § 124 Rn. 48), die wiederum in ihrer Schwere den Ausschlussgründen des § 123 GWB nahekommen müssen (Ziekow/Völlink/Stolz GWB § 124 Rn. 20, 21). Dies liegt für keine der der Antragstellerin vorgeworfenen Verhaltensweisen vor.
Die dem auszuschließenden Unternehmen vorgeworfenen Handlungen sind durch den öffentlichen Auftraggeber nachzuweisen (VK Sachsen, Beschluss vom 17.03.2021 - 1/SVK/03120).
Dazu muss vor einem Ausschluss noch eine Anhörung zu dem jeweiligen Ausschlussgrund durchgeführt werden (OLG München, Beschluss vom 29.11.2021 - Verg 11/20; MüllerWrede/Conrad, § 124 GWB Rn. 14). Auch diese liegt durch die Anhörung vom 17.03.2025 nicht bei allen Vorwürfen vor.
Soweit der Antragsgegner eine Einflussnahme auf die Vorbereitung des Nachprüfungsverfahrens vorträgt, ist diese bereits wie bei dem Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB nicht ansatzweise belegt.
Soweit der Antragsgegner sich auf die Mail der Antragstellerin vom 03.03.2025 stützt, ist der Ausschluss bereits verfahrensfehlerhaft, da dieser Sachverhalt nicht in der Anhörung vom 17.03.2025 enthalten war.
Soweit die Antragstellerin die versuchte unzulässige Einflussnahme auf den Kontakt mit der Leiterin der Vergabestelle nach Absendung des Vorabinformationsschreibens, dessen Stillhaltefrist unzulässig verkürzt war, abstellt, kann auch hierin keine unzulässige Beeinflussung liegen. Es ging auch nach Darstellung des Antragsgegners darum, ein Nachprüfungsverfahren durch die Verlängerung der Stillhaltefrist abzuwenden. Ungeachtet der Frage, ob eine bloße Kontaktaufnahme mit den dafür vorgesehenen Stellen überhaupt einen Versuch der unzulässige Beeinflussung darstellen kann und ob die Verlängerung der Zuschlagsfrist überhaupt eine von dem Ausschlussgrund umfasste Entscheidung ist, ging es hier um einen üblichen Vorgang zwischen rügenden Bietern und der Vergabestelle, bei der das Ziel die Abwendung eines ansonsten unerwünschten Nachprüfungsverfahrens war. Dieses Ziel kann schon per se kein Ergebnis einer unzulässigen Beeinflussung sein.
Soweit sich der Antragsgegner auf Kontakte des Antragsgegners mit der Presse im Zusammenhang mit der Migration zu der Beigeladenen als Interimsdienstleister stützt, ist bereits nicht durch den Antragsgegner nachgewiesen, dass die fragliche Journalistin von der Antragstellerin über die Migration informiert wurde und nicht durch die Lehrer*innen, von denen eine fünfstellige Zahl die Mailpostfächer nutzen. Grundsätzlich muss zwar ein Sachverhalt, auf den sich ein Ausschluss stützt, nicht gerichtlich festgestellt sein (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.07.2018 - Verg 7/18.; jurisPK/Summa, § 124 GWB Rn. 163ff). Über den genauen Grad des Nachweises besteht in der Rechtsprechung und Literatur Uneinigkeit, als geringster Grad des Nachweises soll die jeden vernünftigen Zweifel ausschließende Feststellung genügen, dass der Sachverhalt vorgelegen hat (vgl. für den Ausschlussgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.07.2018 - Verg 7/18.; jurisPK/Summa, § 124 GWB Rn. 163ff). Bereits dieser Grad des Nachweises liegt vorliegend nicht vor, der Antragsgegner hat lediglich vorgebracht, dass die Fragen der Journalistin in zeitlichem Zusammenhang mit der Versendung einer Mail an eine fünfstellige Zahl von Nutzer*innen der Lehrkräftemail gestanden hat, ohne den Nachweis zu führen, dass die Journalistin von der Antragstellerin informiert wurde. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsgegner überhaupt versucht hätte, den Ursprung der Informationen nachzuweisen, der bloße zeitliche Zusammenhang ist keineswegs zwingend kausal oder schließt auch nur vernünftige Zweifel aus. Es erscheint jedenfalls nicht unwahrscheinlicher, dass eine Journalistin, die seit Jahren über den Berliner Bildungsbereich berichtet, wie von der Antragstellerin vorgetragen von Lehrer*innen als Adressat*innen der Informationsmail informiert wird als von der Antragstellerin. Soweit die Antragstellerin zugibt, dass ihre Pressestelle den rechtlichen Hinweis der Vergabekammer auf Nachfrage an die Journalistin gegeben hat, liegt allein darin weder eine verbotene noch sittenwidrige Handlung, die noch dazu auch für sich nicht geeignet wäre, den Versuch einer Beeinflussung darzustellen, noch der Nachweis, dass der Kontakt zu der Journalistin von der Antragstellerin ausging.
Soweit der Antragsgegner sich auf den Versuch der Einflussnahme durch die Mail der Antragstellerin vom 28.11.2024 beruft, ist bereits nicht nachvollziehbar, worin hierbei der Versuch der Einflussnahme liegen könnte. Zunächst kann eine bloße Information, die aufgrund der Gestaltung des Vergabeverfahrens zu nicht mehr als einer Angebotsaufklärung führen kann, keine Entscheidung iSd § 124 Abs. 1 Nr. 9c GWB beeinflussen, dies wird in der Literatur nur für Entscheidungen über den Zuschlag, Ausschluss von Bietern oder der Aufhebung des Vergabeverfahrens so gesehen (vgl. Immenga/Mestmäcker/Kling GWB § 124 Rn. 120; Ziekow/Völlink/Stolz GWB § 124 Rn. 53). Somit lag hier schon keine Entscheidung vor, die potentiell hätte beeinflusst werden können. Im Übrigen wurde die Mail entgegen der Darstellung des Antragsgegners im Ausschlussschreiben nicht initiativ durch die Antragstellerin geschrieben, sondern als Antwort auf eine Anfrage des Antragsgegners, wenn auch der Inhalt darüber hinaus ging. Zum anderen müsste es sich um eine unzulässige Beeinflussung von einer Schwere handeln, die vergleichbar ist mit einem Verstoß nach §124 Abs. 1 Nr. 3 GWB (Ziekow/Völlink/Stolz GWB § 124 Rn. 48; Müller-Wrede/Conrad, § 124 GWB Rn. 176). Letzteres liegt durch den bloßen Versand einer Mail mit zutreffenden Informationen über die Konsequenz der Anforderungen der Leistungsbeschreibung in Bezug auf ein Produkt eindeutig nicht vor. Denn der Inhalt der Mail war auch nicht irreführend, wie sich am Angebot der Beigeladenen gezeigt hat. Diese hat eine von der Standardkonfiguration abweichende Lösung mit zentralem Schlüsselspeicher angeboten, um die Vorgaben der Leistungsbeschreibung erfüllen zu können.
dd. Soweit der Antragsgegner sich für den Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 9c GWB auf eine fahrlässige oder vorsätzliche Übermittlung irreführender Informationen durch eine Einflussnahme im Vorfeld sowie die Mail vom 28.11.2024 beruft, liegt bereits der Tatbestand nicht vor.
Soweit der Antragsgegner sich für den Ausschluss auf eine Einflussnahme im Vorfeld stützt, ist eine solche bereits nicht nachgewiesen (s.o.). Soweit er sich auf die Mail vom 28.11.2024 stützt, liegt der Tatbestand bereits nicht vor. In der Übermittlung zutreffender Informationen kann schon per se keine unzulässige Beeinflussung liegen (vgl. KG, Beschluss vom 27.5.2019 - Verg 4/19). Maßgeblich für die Betrachtung, ob es sich um irreführende Informationen handelt, ist eine objektive Betrachtungsweise (Müller-Wrede/Conrad, § 124 GWB Rn. 186). Die Mail legt aus Sicht des Antragstellers und technisch zutreffend (s.o.) dar, dass das aus seiner Sicht üblicherweise verwendete Produkt nicht in der Lage sei, die Anforderungen der Leistungsbeschreibung zu erfüllen. Eine Konkretisierung auf das der Antragstellerin nicht bekannte Angebot der Beigeladenen lag nicht vor. Die Beigeladene hat diese Information in ihrer Antwort auf das Preisaufklärungsschreiben bestätigt und ausgeführt, dass sie das erwähnte Produkt in einer abweichenden Konfiguration mit einem zentralen Schlüsselspeicher anbiete.
Soweit der Antragsgegner auf eine angebliche Beeinflussung im Bereich der Erstellung der Leistungsbeschreibung durch die Antragstellerin abstellt, ist dazu nichts aus den Vergabeakten ersichtlich. Den Vergabeakten kommt insofern eine negative Beweiskraft zu (Ziekow/Völlink/Goede VgV § 8 Rn. 10). Die mündliche Verhandlung hat des Weiteren ergeben, dass der zuständige Mitarbeiter des Antragsgegners durch die Lektüre des bereits eingesetzten Produkts der Antragstellerin dazu inspiriert wurde, die Forderung nach einem Web-Guard in die Leistungsbeschreibung aufzunehmen, so dass hier kein Versuch der Täuschung worüber auch immer durch den Antragsgegner nachgewiesen wurde.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Nach § 182 Abs. 3 S. 1 GWB hat ein Beteiligter die Kosten zu tragen, soweit er im Verfahren unterliegt. Zwar war die Antragstellerin mit ihrem Hauptantrag zu 1. nicht vollständig erfolgreich, sondern nur mit ihrem auf das gleiche Ziel gerichteten Hilfsantrag zu 2., dies hat jedoch keine Kostenfolgen, da der Unterschied nur minimal ist und die Kammer an die Anträge gem. § 168 Abs. 1 S. 2 GWB nicht gebunden ist.
Aufwendungen der Beigeladenen sind gem. § 182 Abs. 4 S. 2 GWB nur erstattungsfähig, soweit die Kammer diese aus Gründen der Billigkeit der unterliegenden Partei auferlegt. Vorliegend entspricht es der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre Kosten selbst trägt. Die Beigeladene hat in dem Verfahren zwar an der mündlichen Verhandlung teilgenommen, aber keine Anträge gestellt, und sich auch nicht durch schriftsätzlichen Vortrag am Verfahren beteiligt, so dass es der Billigkeit entspricht, dass die Beigeladene ihre Kosten selbst trägt, da sie sich auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
Die Festsetzung der Verfahrensgebühr beruht auf § 182 Abs. 2 GWB und entspricht dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer. Die Vergabekammer zieht als Ausgangspunkt insofern die auftragswertorientierte Gebührentabelle der Vergabekammern des Bundes (derzeit abrufbar unter https://www.bundeskartellamt.de/DE/Vergabe-recht/Materialien/Materialien_node.html) heran. Dabei legt die Kammer im vorliegenden Fall den Bruttoangebotspreis der Beigeladenen zugrunde, der den Wert des Auftrags repräsentiert. Unter Beachtung des personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer für das hiesige Nachprüfungsverfahren, welches trotz der ausführlichen Schriftsätze der Beteiligten und der mündlichen Verhandlung gerade noch durchschnittlich umfangreich war, ergibt sich eine Verfahrensgebühr in Höhe von ... EUR. Der Antragsgegner ist gemäß § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 2 VwKostG allerdings von der Zahlung der Gebühren befreit.
Nach § 182 Abs. 4 S. 1 GWB hat der Antragsgegner die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen. Auf den Antrag der Antragstellerin stellt die Vergabekammer nach § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2, 3 Satz 2 VwVfG die Notwendigkeit der Hinzuziehung ihrer Verfahrensbevollmächtigten fest. Ob die Hinzuziehung eines anwaltlichen Vertreters im Verfahren vor der Vergabekammer notwendig ist, kann nicht schematisch, sondern stets nur auf der Grundlage einer differenzierenden Betrachtung des Einzelfalles entschieden werden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26.09.2006 - X ZB 14/06; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 30.03.2010 - 11 Verg 3/10). Entscheidend ist dabei, ob die Antragstellerin unter den konkreten Umständen des Falls selbst in der Lage gewesen wäre, auf Grund der bekannten oder erkennbaren Tatsachen den Sachverhalt zu erfassen, hieraus die für eine sinnvolle Rechtsverfolgung nötigen Schlüsse zu ziehen und entsprechend gegenüber der Vergabekammer vorzutragen (vgl. schon VK Berlin, Beschluss vom 26.08.2014 - VK - B 1 - 10/14 m.w.N.). Danach ist die Hinzuziehung vorliegend notwendig gewesen. Vorliegend geht es um Mängel des Vergabeverfahrens im Bereich der Wertung der Angebote anderer Bieter sowie den Ausschluss der Antragstellerin aus dem Verfahren. Es kann von der Antragstellerin nicht erwartet werden, derartig komplexe Fragen des Vergaberechts, bei dem es sich noch dazu um eine Spezialmaterie handelt (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 12.11.2020 - 54 Verg 2/20), tatsächlich und rechtlich ohne Rechtsbeistand zu lösen und vor der Kammer entsprechend vorzutragen.
(Rechtsmittelbelehrung)
Leitenden Mitarbeiter des Mitbewerbers eingestellt: Unzulässiger ...
Leitenden Mitarbeiter des Mitbewerbers eingestellt: Unzulässiger Wettbewerbsvorteil?
Melden Sie sich jetzt an unter www.vpr-online.de, um sämtliche Entscheidungen im Volltext lesen zu können. EuGH |
|
1 | Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die OHB System AG die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 26. April 2023, OHB System/Kommission (T-54/21, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2023:210), mit dem das Gericht ihre Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung der ihr am 19. und am 22. Januar 2021 mitgeteilten Beschlüsse, ihrem Angebot im Rahmen des in Form des wettbewerblichen Dialogs eingeleiteten Vergabeverfahrens 2018/S 091-206089 betreffend die Beschaffung von Galileo-Übergangssatelliten nicht den Zuschlag zu erteilen und den Auftrag an zwei andere Bieter zu vergeben (im Folgenden: streitige Beschlüsse), abgewiesen hat. Rechtlicher Rahmen Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 |
2 | Art. 136 ("Ausschlusskriterien und Ausschlussentscheidungen") Abs. 1, 2 und 4 der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1, im Folgenden: Haushaltsordnung) bestimmte: "(1) Der zuständige Anweisungsbefugte schließt eine in Artikel 135 Absatz 2 genannte Person oder Stelle von der Teilnahme an Gewährungsverfahren nach dieser Verordnung oder von der Auswahl zur Ausführung von Unionsmitteln aus, wenn diese Person oder Stelle sich in einer oder mehrerer der folgenden Ausschlusssituationen befindet: ... c) durch eine rechtskräftige Gerichts- oder eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung festgestellt wurde, dass die Person oder Stelle im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat aufgrund eines Verstoßes gegen geltende Gesetze, Bestimmungen oder ethische Standards ihres Berufsstandes oder aufgrund jeglicher Form von rechtswidrigem Handeln, das sich auf ihre berufliche Glaubwürdigkeit auswirkt, wenn es vorsätzlich oder grob fahrlässig erfolgt; dazu zählen insbesondere folgende Verhaltensweisen: ... ii) Absprachen mit anderen Personen oder Stellen mit dem Ziel einer Wettbewerbsverzerrung; ... v) Versuch, vertrauliche Informationen über das Verfahren zu erhalten, durch die unzulässige Vorteile beim Gewährungsverfahren erlangt werden könnten; ... (2) In Ermangelung einer rechtskräftigen Gerichts- bzw. bestandskräftige Verwaltungsentscheidung in den Fällen nach Absatz 1 Buchstaben c, d, f, g und h dieses Artikels oder im Fall nach Absatz 1 Buchstabe e dieses Artikels legt der zuständige Anweisungsbefugte bei entsprechendem Verhalten einer in Artikel 135 Absatz 2 genannten Person oder Stelle eine vorläufige rechtliche Bewertung für deren Ausschluss zugrunde, wobei er sich auf die festgestellten Sachverhalte oder sonstigen Erkenntnisse aus der Empfehlung des in Artikel 143 genannten Gremiums [(im Folgenden: Gremium)] stützt. ... (4) Der zuständige Anweisungsbefugte schließt eine in Artikel 135 Absatz 2 genannte Person oder Stelle aus, wenn a) sich eine natürliche oder juristische Person, die Mitglied des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans einer in Artikel 135 Absatz 2 genannten Person oder Stelle ist oder bezüglich dieser Person oder Stelle Vertretungs-, Beschluss- oder Kontrollbefugnisse hat, in einer oder mehreren der in Absatz 1 Buchstaben c bis h dieses Artikels genannten Situationen befindet; ..." |
3 | Art. 141 ("Ablehnung in einem Gewährungsverfahren") Abs. 1 Unterabs. 1 der Haushaltsordnung sah vor: "Der zuständige Anweisungsbefugte lehnt einen Teilnehmer in einem Gewährungsverfahren ab, wenn dieser a) sich in einer Ausschlusssituation nach Artikel 136 befindet; b) die Auskünfte, die für die Teilnahme am Verfahren verlangt wurden, verfälscht oder nicht erteilt hat; c) zuvor an der Erstellung von Unterlagen für das Gewährungsverfahren mitgewirkt hat, soweit dies einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz - einschließlich der Wettbewerbsverzerrung - darstellt, der auf andere Weise nicht behoben werden kann." |
4 | Art. 143 ("Gremium") der Haushaltsordnung enthielt u. a. Regeln für das Verfahren zur Abgabe einer Empfehlung des Gremiums für einen Ausschluss eines Bieters. |
5 | In Art. 160 ("Grundsätze für Verträge und Anwendungsbereich") der Verordnung hieß es: "(1) Für Verträge, die ganz oder teilweise aus dem Haushalt finanziert werden, gelten die Grundsätze der Transparenz, der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung. (2) Alle Verträge werden auf der Grundlage eines möglichst breiten Wettbewerbs vergeben, außer wenn das Verfahren nach Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe d angewendet wird. ..." |
6 | Art. 167 ("Auftragsvergabe") Abs. 1 der Haushaltsordnung bestimmte: "Aufträge werden auf der Grundlage von Zuschlagskriterien vergeben, sofern der öffentliche Auftraggeber folgende Bedingungen überprüft hat: ... b) der Bewerber oder Bieter wird nicht nach Artikel 136 ausgeschlossen oder nach Artikel 141 abgelehnt ... ..." |
7 | Art. 170 ("Vergabeentscheidung und Unterrichtung der Bewerber oder Bieter") der Haushaltsordnung sah vor: "(1) Der zuständige Anweisungsbefugte entscheidet unter Einhaltung der in den Auftragsunterlagen aufgeführten Eignungs- und Zuschlagskriterien, wem der Zuschlag für den Vertrag erteilt wird. (2) Der öffentliche Auftraggeber unterrichtet alle Bewerber oder Bieter, deren Teilnahmeantrag oder Angebot abgelehnt wurde, über die Gründe für die Ablehnung und die Dauer der in Artikel 175 Absatz 2 und Artikel 178 Absatz 1 genannten Stillhaltefristen. Bei der Vergabe von Einzelverträgen innerhalb eines Rahmenvertrags mit erneutem Aufruf zum Wettbewerb unterrichtet der öffentliche Auftraggeber die Bieter über das Ergebnis der Evaluierung. (3) Der öffentliche Auftraggeber unterrichtet auf schriftlichen Antrag jeden Bewerber, für den keine der in Artikel 136 Absatz 1 genannte Ausschlusssituation vorliegt und dessen Angebot den Auftragsunterlagen entspricht, über folgende Aspekte: a) den Namen des Bieters bzw. die Namen der Bieter, wenn es sich um einen Rahmenvertrag handelt, dem bzw. denen der Zuschlag für den Vertrag erteilt wurde, sowie - außer im Fall eines Einzelvertrags innerhalb eines Rahmenvertrags mit erneutem Aufruf zum Wettbewerb - die Merkmale und relativen Vorteile des erfolgreichen Angebots, den Preis bzw. den Vertragswert; b) die Fortschritte der Verhandlungen und des Dialogs mit den Bietern. Er kann jedoch beschließen, bestimmte Angaben nicht mitzuteilen, wenn die Offenlegung dieser Angaben den Gesetzesvollzug behindern, dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen, den berechtigten geschäftlichen Interessen von Wirtschaftsteilnehmern schaden oder den lauteren Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern verfälschen würde." |
8 | Die Haushaltsordnung enthielt einen Anhang I, dessen Nr. 23 ("Ungewöhnlich niedrige Angebote") bestimmte: "23.1. Scheinen die bei einem bestimmten Vertrag im Angebot vorgeschlagenen Preise oder Kosten ungewöhnlich niedrig zu sein, so verlangt der öffentliche Auftraggeber schriftlich Aufklärung über die wesentlichen Bestandteile der Preise oder Kosten, die er für relevant hält, und gibt dem Bieter Gelegenheit zur Stellungnahme. ... 23.2. Der öffentliche Auftraggeber lehnt das Angebot nur dann ab, wenn die beigebrachten Nachweise das niedrige Niveau des vorgeschlagenen Preises beziehungsweise der vorgeschlagenen Kosten nicht zufriedenstellend erklären. Der öffentliche Auftraggeber lehnt das Angebot ab, wenn er feststellt, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil es den geltenden umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nicht genügt. 23.3. Stellt der öffentliche Auftraggeber fest, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil der Bieter eine staatliche Beihilfe erhalten hat, so darf er das Angebot allein aus diesem Grund nur ablehnen, sofern der Bieter binnen einer von dem öffentlichen Auftraggeber festzulegenden ausreichenden Frist nicht nachweisen kann, dass die betreffende Beihilfe mit dem Binnenmarkt im Sinne des Artikels 107 AEUV vereinbar war." |
9 | In Nr. 31 ("Unterrichtung der Bewerber und Bieter") dieses Anhangs hieß es: "31.1. Der öffentliche Auftraggeber unterrichtet nach jeder der folgenden Phasen alle Bewerber und Bieter schnellstmöglich und zeitgleich, aber separat auf elektronischem Wege über die Entscheidungen im Hinblick auf das Ergebnis des Verfahrens: a) in den in Artikel 168 Absatz 3 genannten Fällen: nach der Eröffnungsphase; b) bei zweistufigen Vergabeverfahren: nachdem eine Entscheidung anhand der Ausschluss- und Eignungskriterien getroffen wurde; c) nachdem eine Vergabeentscheidung getroffen wurde. In jedem dieser Fälle gibt der öffentliche Auftraggeber die Gründe für die Ablehnung des Teilnahmeantrags bzw. des Angebots sowie die Rechtsmittel an, die eingelegt werden können. Bei der Unterrichtung des erfolgreichen Bieters weist der öffentliche Auftraggeber darauf hin, dass diese mitgeteilte Entscheidung noch keine Verpflichtung seitens des Auftraggebers begründet. 31.2. Der öffentliche Auftraggeber übermittelt die in Artikel 170 Absatz 3 genannten Informationen so schnell wie möglich und auf jeden Fall innerhalb von 15 Tagen nach Eingang des schriftlichen Antrags. Verträge auf eigene Rechnung vergibt der öffentliche Auftraggeber auf elektronischem Wege. Der Bieter kann seinen Antrag ebenfalls elektronisch übermitteln. ..." |
10 | Nr. 35 ("Stillhaltefrist vor der Unterzeichnung des Vertrags") des Anhangs bestimmte: "35.1. Die Stillhaltefrist läuft ab einem der folgenden Zeitpunkte: a) dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem die Benachrichtigungen an die abgelehnten und die erfolgreichen Bieter zeitgleich elektronisch übermittelt wurden; b) wenn es sich um einen Vertrag oder Rahmenvertrag handelt, der gemäß Nummer 11.1 Unterabsatz 2 Buchstabe b vergeben wird, ab dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem die Vergabebekanntmachung gemäß Nummer 2.4 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. Erforderlichenfalls kann der öffentliche Auftraggeber die Vertragsunterzeichnung zwecks ergänzender Prüfung aussetzen, wenn die von den abgelehnten oder beschwerten Bewerbern oder Bietern übermittelten Anträge und Anmerkungen oder anderweitig innerhalb der in Artikel 175 Absatz 3 festgelegten Frist erhaltene stichhaltige Informationen dies rechtfertigen. Wird die Unterzeichnung ausgesetzt, werden sämtliche Bewerber oder Bieter binnen drei Arbeitstagen nach der Aussetzungsentscheidung davon unterrichtet. Kann der Vertrag oder Rahmenvertrag nicht mit dem vorgesehenen Bieter unterzeichnet werden, so kann der öffentliche Auftraggeber den Vertrag an den auf der Rangliste nachfolgenden Bieter vergeben. ..." Richtlinie 2014/24/EU |
11 | Art. 57 ("Ausschlussgründe") Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65) bestimmt: "Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden: ... c) der öffentliche Auftraggeber kann auf geeignete Weise nachweisen, dass der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die seine Integrität in Frage stellt; ..." Vorgeschichte des Rechtsstreits |
12 | Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist in den Rn. 2 bis 23 des angefochtenen Urteils dargestellt und lässt sich wie folgt zusammenfassen. |
13 | OHB System ist eine Gesellschaft deutschen Rechts, die sich mit der Entwicklung und Umsetzung innovativer Raumfahrtsysteme und -projekte sowie der Vermarktung spezifischer Luftfahrt-, Raumfahrt- und Telematikprodukte einschließlich geostationärer und erdnaher Satelliten befasst. |
14 | Mit dem Galileo-Programm soll ein europäisches System für die satellitengestützte Navigation und Positionsbestimmung aufgebaut und betrieben werden, das speziell für zivile Zwecke konzipiert ist und eine Satellitenkonstellation sowie ein weltweites Netz von Bodenstationen umfasst. |
15 | Gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1285/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 betreffend den Aufbau und den Betrieb der europäischen Satellitennavigationssysteme und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 876/2002 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 683/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 1) trägt die Kommission die Gesamtverantwortung für das Programm Galileo und hat für die Errichtungsphase dieses Programms mit der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) eine Übertragungsvereinbarung zu schließen, in der die Aufgaben der ESA insbesondere in Bezug auf die das System betreffenden Beschaffungen im Einzelnen aufgeführt sind. |
16 | Im Rahmen der Übertragungsvereinbarung zwischen der Kommission und der ESA für die Errichtungsphase des Galileo-Programms ist die ESA mit der Durchführung der Verfahren zur Vergabe der dieses Programm betreffenden öffentlichen Aufträge betraut; die Kommission bleibt der öffentliche Auftraggeber. |
17 | Mit Auftragsbekanntmachung vom 15. Mai 2018, die in der Beilage zum Amtsblatt der Europäischen Union vom 15. Mai 2018 (ABl. 2018/S0 91-206089) und auf der Webseite emits.esa.int veröffentlicht wurde, leitete die im Namen und im Auftrag der Kommission handelnde ESA für die Beschaffung von Galileo-Übergangssatelliten ein Vergabeverfahren in der Form des wettbewerblichen Dialogs (im Folgenden: streitiger wettbewerblicher Dialog) ein. Das Verfahren wurde in dieser Form eingeleitet, da die Kommission bereits ihren Bedarf ermittelt und festgelegt hatte, aber noch nicht die genauen zu dessen Deckung am besten geeigneten Mittel. |
18 | Der streitige wettbewerbliche Dialog betraf die Beschaffung von zunächst vier (von bis zu zwölf) Galileo-Übergangssatelliten mit weiterentwickelten Spezifikationen, um den Übergang von der ersten Generation der Galileo-Satelliten zur zweiten Generation einzuleiten. Es wurde beschlossen, mehrere Bezugsquellen zu erschließen, so dass für die parallele Beschaffung von voraussichtlich jeweils zwei Satelliten zwei Auftragnehmer ausgewählt und zwei Verträge unterzeichnet werden konnten. |
19 | Der Zuschlag für den betreffenden Auftrag sollte auf der Grundlage von zwei Kriterien, und zwar dem Preis mit einer Gewichtung von 35 % und der Qualität mit einer Gewichtung von insgesamt 65 %, dem wirtschaftlich günstigsten Angebot erteilt werden. Das Qualitätskriterium bestand aus fünf Unterkriterien. |
20 | Der streitige wettbewerbliche Dialog verlief in drei Phasen. Der Ablauf der ersten beiden Phasen richtete sich nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1285/2013 sowie der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates (ABl. 2012, L 298, S. 1) und der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission vom 29. Oktober 2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union (ABl. 2012, L 362, S. 1). Die dritte Phase lief nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1285/2013 und der Verordnung 2018/1046 ab. |
21 | Die erste Phase des streitigen wettbewerblichen Dialogs begann im Mai 2018 mit der Veröffentlichung einer "Aufforderung zur Einreichung eines Teilnahmeantrags" durch die ESA. |
22 | Unter den bei ihr eingegangenen Teilnahmeanträgen wählte die ESA drei Bieter aus, und zwar OHB System, die Airbus Defence and Space GmbH (im Folgenden: ADS) und die Thales Alenia Space Italia (im Folgenden: TASI) (im Folgenden zusammen: Bieter). |
23 | Die zweite Phase, die im Juli 2018 begann, diente zur Ermittlung und Festlegung der Mittel, mit denen der Bedarf des öffentlichen Auftraggebers am besten erfüllt werden kann. Zunächst forderte die ESA die Bieter zur Einreichung eines "Preliminary Proposal" (vorläufiges Angebot) auf und übersandte ihnen u. a. die "Special Conditions of Tender for Invitation to Submit a Preliminary Proposal" (Besondere Vergabebedingungen für die Aufforderung zur Einreichung eines vorläufigen Angebots). Sodann forderte die ESA nach einer Dialogphase die Bieter zur Einreichung eines "Refined Proposal" (überarbeitetes Angebot) auf und übersandte ihnen die "Conditions of Tender for Invitation to Submit a Refined Proposal" (Vergabebedingungen für die Aufforderung zur Einreichung eines überarbeiteten Angebots). OHB System reichte am 26. September 2018 ihr vorläufiges Angebot und am 11. Oktober 2019 ihr überarbeitetes Angebot ein. |
24 | Die dritte Phase begann im August 2020, und nach einer weiteren Dialogphase forderte die ESA die Bieter auf, ihr "Best and Final Offer" (endgültiges Angebot) abzugeben und übersandte ihnen u. a. die "Conditions of Tender for Invitation to Submit a Best and Final Offer" (Vergabebedingungen für die Aufforderung zur Einreichung eines endgültigen Angebots). Am 11. Oktober 2020 reichte OHB System ihr endgültiges Angebot ein. |
25 | Zwischen Oktober und Dezember 2020 wurden die endgültigen Angebote der Bieter von einem Evaluierungsausschuss - bestehend aus Vertretern der ESA, der Agentur für das europäische globale Satellitennavigationssystem (GSA) und der Kommission - evaluiert, der die Ergebnisse der Evaluierung in einem Evaluierungsbericht (im Folgenden: Evaluierungsbericht) darlegte. |
26 | Mit Schreiben vom 23. Dezember 2020 an die Kommission, von dem u. a. die ESA eine Kopie erhielt (im Folgenden: Schreiben vom 23. Dezember 2020), beantragte OHB System bei der Kommission im Wesentlichen, den streitigen wettbewerblichen Dialog wegen des "Verdachts auf Verletzung [ihrer] Geschäftsgeheimnisse durch einen Mitarbeiter von [ADS]" auszusetzen, eine Untersuchung durchzuführen und ADS gegebenenfalls von dem streitigen wettbewerblichen Dialog auszuschließen. |
27 | In dem genannten Schreiben unterrichtete die Rechtsmittelführerin die Kommission im Wesentlichen über Folgendes: Erstens sei ein ehemaliger Mitarbeiter (im Folgenden: ehemaliger Mitarbeiter) vom 22. Dezember 2016 bis Ende November 2019 für OHB System tätig gewesen, habe als Chief Operating Officer (Manager für das operative Geschäft) weitreichenden Zugang zu den Daten des betreffenden Projekts gehabt und sei an der Vorbereitung des Angebots beteiligt gewesen, das OHB System im Rahmen des streitigen wettbewerblichen Dialogs eingereicht habe. Insbesondere sei er in die den technischen Teil ihres Angebots betreffende "Strategie" sowie in die beim Preis und bei der Berechnung des Preises dieses Angebots verfolgte "Strategie" einbezogen gewesen. Zweitens hätten der ehemalige Mitarbeiter und OHB System auf seinen Wunsch am 11. November 2019 die vorzeitige Auflösung seines Arbeitsvertrags unterzeichnet. Drittens habe ADS im Dezember 2019 den ehemaligen Mitarbeiter eingestellt und ihn im Jahr 2020 an die Spitze der Abteilung platziert, die für das von ADS im Rahmen des streitigen wettbewerblichen Dialogs eingereichte Angebot zuständig gewesen sei. Ferner gebe es Anhaltspunkte dafür, dass der ehemalige Mitarbeiter sensible Informationen von OHB System erlangt habe, die geeignet gewesen seien, ADS im Rahmen des streitigen wettbewerblichen Dialogs einen unzulässigen Vorteil zu verschaffen. Viertens habe OHB System eine Untersuchung des Computers in Auftrag gegeben, den der ehemalige Mitarbeiter in diesem Unternehmen benutzt habe; dabei seien Belege dafür gefunden worden, dass er seit Juni 2019 die Absicht gehabt habe, den Arbeitgeber zu wechseln, und dass er im Rahmen der Verhandlungen über seine Einstellung ADS u. a. darauf hingewiesen habe, dass ihr durch seine Einstellung bei Projekten, bei denen sie im Wettbewerb mit der Rechtsmittelführerin stehe, Vorteile entstünden, sowie Anhaltspunkte dafür, dass der ehemalige Mitarbeiter vertrauliche Dateien von OHB System kopiert habe. Fünftens seien alle diese Umstände Gegenstand eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gewesen, das die zuständige Staatsanwaltschaft in Deutschland aufgrund einer von der Rechtsmittelführerin im März 2020 gegen den ehemaligen Mitarbeiter erstatteten Strafanzeige eingeleitet habe. |
28 | Die Kommission beschloss auf der Grundlage des Evaluierungsberichts, den Zuschlag nicht dem Angebot von OHB System, sondern den Angeboten von TASI und ADS zu erteilen. Die streitigen Beschlüsse wurden OHB System von der ESA mit Schreiben vom 19. Januar 2021 und mit Fax vom 22. Januar 2021 übermittelt. |
29 | Mit dem Schreiben vom 19. Januar 2021 teilte die ESA der Rechtsmittelführerin mit, dass sie ihrem Angebot nicht den Zuschlag erteilen werde, da es nicht das wirtschaftlich günstigste Angebot sei. Diesem Schreiben war als Anlage ein Auszug aus der vom Evaluierungsausschuss anhand der fünf Unterkriterien des Qualitätskriteriums vorgenommenen Evaluierung ihres endgültigen Angebots beigefügt. |
30 | In der Folge forderte OHB System die ESA mit Fax vom 20. Januar 2021 auf, ihr Informationen über die erfolgreichen Bieter, die Merkmale und Vorteile ihrer Angebote und den zur Festlegung der Rangfolge herangezogenen Gesamtpreis sowie die detaillierte Evaluierung ihres eigenen Angebots zu übermitteln. |
31 | Mit Schreiben vom 20. Januar 2021 teilte die Kommission OHB System unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 23. Dezember 2020 mit, dass erstens derzeit keine ausreichenden Gründe für eine Aussetzung des streitigen wettbewerblichen Dialogs vorlägen, zweitens das Vorbringen einer rechtswidrigen Aneignung von Geschäftsgeheimnissen der Rechtsmittelführerin bereits Gegenstand einer Untersuchung durch die nationalen Behörden sei, gestützt auf deren Ergebnisse die Kommission gegebenenfalls zusätzliche Maßnahmen ergreifen könne, und drittens dieses Vorbringen nicht durch eine rechtskräftige Gerichts- oder eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung im Sinne von Art. 136 Abs. 1 der Haushaltsordnung bestätigt worden sei, so dass kein Anlass bestehe, ADS von dem streitigen wettbewerblichen Dialog auszuschließen. |
32 | Mit Fax vom 22. Januar 2021 teilte die ESA OHB System die Namen der erfolgreichen Bieter, nämlich TASI und ADS, den Gesamtpreis und die endgültige Rangfolge ihrer Angebote sowie deren Rangfolge bei den fünf Unterkriterien des Qualitätskriteriums mit. Als Anlage zu diesem Fax übersandte die ESA OHB System die detaillierten Ergebnisse der Evaluierung ihres Angebots anhand dieser fünf Unterkriterien. |
33 | Die Angebote der Bieter nahmen folgenden Rang ein: Das Angebot von TASI befand sich an erster Stelle, das Angebot von ADS an zweiter Stelle und das Angebot von OHB System an dritter Stelle. Ihre Angebote wurden anhand der beiden in Rn. 19 des vorliegenden Urteils genannten Vergabekriterien bewertet. Beim Qualitätskriterium befand sich das Angebot von TASI an erster Stelle, das Angebot von ADS an zweiter Stelle und das Angebot OHB System an dritter Stelle. Beim Preiskriterium nahm das Angebot von ADS mit einem Gesamtpreis von 707 679 174,75 Euro die erste Stelle, das Angebot von TASI mit einem Gesamtpreis von 804 127 000,00 Euro die zweite Stelle und das Angebot von OHB System mit einem Gesamtpreis von 822 786 000,00 Euro die dritte Stelle ein. |
34 | Mit Schreiben vom 28. Januar 2021 (im Folgenden: Rügeschreiben) beantragte OHB System bei der Kommission erstens, ADS von dem streitigen wettbewerblichen Dialog auszuschließen, zweitens, die streitigen Beschlüsse dahin abzuändern, dass der Auftrag an sie vergeben werde, drittens, ihr umfassende Einsicht in die Akte des streitigen wettbewerblichen Dialogs und in den Evaluierungsbericht zu gewähren, sowie viertens, die Verträge nicht zu unterzeichnen, bis über ihre Beanstandungen entschieden worden sei. In ihrem Schreiben trug OHB System vor, ADS sei auszuschließen, da sie durch die Einbeziehung des ehemaligen Mitarbeiters in die Ausarbeitung ihres Angebots gegen den Grundsatz des geheimen Wettbewerbs verstoßen habe und da ihr Angebot ungewöhnlich niedrig sei. Klage vor dem Gericht und angefochtenes Urteil |
35 | Mit Klageschrift, die am 29. Januar 2021 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Rechtsmittelführerin eine Klage, mit der sie zum einen beantragte, die streitigen Beschlüsse für nichtig zu erklären, und zum anderen, die Kommission aufzufordern, die Akte über die Vergabe des betreffenden Auftrags vorzulegen und OHB System umfassende Einsicht in diese Akte zu gewähren. |
36 | OHB System stützte ihre Klage auf fünf Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen die in Art. 136 der Haushaltsordnung vorgesehenen Ausschlusskriterien sowie gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und des "geheimen Wettbewerbs" gerügt. Mit dem zweiten Klagegrund wurde eine Verletzung der Pflicht zur Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote gerügt. Mit dem dritten Klagegrund wurden offensichtliche Beurteilungsfehler bei der Evaluierung des Angebots von OHB System gerügt. Mit dem vierten Klagegrund wurde eine Verletzung der Pflicht der Kommission zur eigenständigen Entscheidung über die Vergabe des betreffenden Auftrags gerügt. Mit dem fünften Klagegrund schließlich wurde eine Verletzung der Begründungspflicht der Kommission gerügt. |
37 | Mit gesondertem Schriftsatz, der am 29. Januar 2021 bei der Kanzlei des Gerichts einging, reichte OHB System einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ein, der auf Aussetzung des Vollzugs der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidung gerichtet war. Mit Beschluss vom 31. Januar 2021, der auf der Grundlage von Art. 157 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichts erging, setzte der Präsident des Gerichts den Vollzug dieser Entscheidung bis zum Erlass der das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beendenden Beschlusses aus. Mit Beschluss vom 26. Februar 2021, der ebenfalls auf der Grundlage der genannten Bestimmung erging, stellte der Präsident des Gerichts klar, dass sich der Beschluss vom 31. Januar 2021 nur auf die Erteilung des Zuschlags für den betreffenden Auftrag an ADS beziehe. Mit Beschluss vom 26. Mai 2021, OHB System/Kommission (T-54/21 R, EU:T:2021:292), wies der Präsident des Gerichts den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurück und hob die vorgenannten Beschlüsse auf. |
38 | Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die fünf in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Klagegründe als unbegründet zurückgewiesen. |
39 | In den Rn. 58 bis 100 des angefochtenen Urteils hat das Gericht den ersten Teil des ersten Klagegrundes geprüft, mit dem ein Verstoß gegen die in Art. 136 der Haushaltsordnung vorgesehenen Ausschlusskriterien gerügt wurde, und ihn als unbegründet zurückgewiesen. |
40 | In den Rn. 58 bis 65 dieses Urteils hat das Gericht die drei in Art. 136 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii und v, Art. 136 Abs. 4 Buchst. a bzw. Art. 136 Abs. 2 Unterabs. 1 der Haushaltsordnung vorgesehenen Ausschlusskriterien dargestellt. In den Rn. 66 und 69 des Urteils hat es zunächst festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der ersten beiden Kriterien nicht erfüllt seien, und sodann geprüft, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des dritten dieser Ausschlusskriterien erfüllt sind. Insoweit stelle sich die Frage, ob die Kommission dadurch, dass sie das Gremium nicht befasst habe, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 136 Abs. 2 Unterabs. 1 und Art. 143 der Haushaltsordnung verstoßen habe. In diesem Zusammenhang hat das Gericht zunächst in den Rn. 72 bis 76 des angefochtenen Urteils einige Ausführungen zur Befassung des Gremiums gemacht und in Rn. 77 dieses Urteils auf den Inhalt von Art. 136 Abs. 2 Unterabs. 4 der Haushaltsordnung hingewiesen und sodann in Rn. 78 des Urteils festgestellt, dass der öffentliche Auftraggeber das Gremium nur dann befassen müsse, wenn die festgestellten Sachverhalte, die ihm vorlägen, ausreichende Anhaltspunkte für die Vermutung der Schuld des Bieters darstellten. In Rn. 79 des angefochtenen Urteils hat das Gericht weiter ausgeführt, dass das Erfordernis solcher Anhaltspunkte den Zielen eines Systems entspreche, das u. a. zur Früherkennung und zum Ausschluss von Bietern diene, deren Verhalten ein Risiko für die finanziellen Interessen der Union darstelle, dass es sich aus dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung ergebe, da es verhindere, dass ein Vergabeverfahren ohne triftigen Grund verzögert werde, dass es aus der dem Gremium übertragenen Rolle folge und dass es sich aus der Tragweite der in Art. 136 Abs. 2 Unterabs. 1 der Haushaltsordnung genannten vorläufigen rechtlichen Bewertung ergebe, da sie das Verhalten eines Bieters im Fall des Fehlens einer rechtskräftigen Gerichts- oder einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung betreffe und sich folglich nicht auf einen bloßen Verdacht stützen könne. |
41 | In den Rn. 80 bis 96 des angefochtenen Urteils hat das Gericht geprüft, ob die Kommission über ausreichende Anhaltspunkte dafür verfügte, dass ADS im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere, die finanziellen Interessen der Union bedrohende Verfehlung in Form einer Absprache mit anderen Personen oder Stellen mit dem Ziel einer Wettbewerbsverzerrung oder des Versuchs, vertrauliche Informationen über das Verfahren zu erhalten, durch die sie bei dem streitigen wettbewerblichen Dialog unzulässige Vorteile hätte erlangen können, begangen hatte. |
42 | In den Rn. 81 bis 86 dieses Urteils hat das Gericht jedoch festgestellt, dass der Kommission in Bezug auf ein mutmaßlich rechtswidriges Verhalten von ADS nur das Schreiben vom 23. Dezember 2020 vorgelegen habe und dass das Vorbringen darin nicht als festgestellte Sachverhalte oder Erkenntnisse angesehen werden könne, die ausreichende, eine Befassung des Gremiums rechtfertigende Anhaltspunkte für eine Vermutung der Schuld von ADS darstellen könnten, und dass dieses Vorbringen nicht untermauert worden sei. |
43 | In den Rn. 87 bis 95 des angefochtenen Urteils hat das Gericht geprüft, ob die Kommission gleichwohl verpflichtet war, wegen dieses Vorbringens Untersuchungen anzustellen. Hierzu hat es in den Rn. 88 und 89 dieses Urteils ausgeführt, dass im Schreiben vom 23. Dezember 2020 kein ADS zurechenbares Verhalten erwähnt werde, sondern es lediglich heiße, dass ADS den ehemaligen Mitarbeiter eingestellt habe, was für sich allein keinen Anhaltspunkt für ein Verhalten von ADS darstelle, bei dem es sich um eine schwere Verfehlung im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit handeln könnte. In Rn. 90 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass OHB System mit diesem Schreiben geltend gemacht habe, dass dieser ehemalige Mitarbeiter das Geschäftsgeheimnis dadurch verletzt habe, dass er sich rechtswidrig sensible Informationen über sie beschafft habe, die geeignet gewesen seien, ADS im streitigen wettbewerblichen Dialog einen unzulässigen Vorteil zu verschaffen. Insoweit hat das Gericht in Rn. 91 des angefochtenen Urteils weiter ausgeführt, dass ein solcher Verstoß - sein Vorliegen unterstellt - jedenfalls kein Anhaltspunkt für ein Verhalten von ADS selbst wäre und daher nicht geeignet wäre, die Vermutung zu begründen, dass ADS sich schuldhaft verhalten habe. Außerdem enthielt dieses Schreiben nach Ansicht des Gerichts nur die vage und hypothetische Behauptung, dass ADS solche Informationen hätte erhalten können. Dieses Schreiben enthalte nämlich keine konkreten Angaben, mit denen sich diese angeblichen Informationen identifizieren ließen, vielmehr werde darin nur allgemein erwähnt, dass der ehemalige Mitarbeiter an der "Strategie" des technischen Teils und der "Strategie" in Bezug auf den Preis und die Preiskalkulation für das Angebot von OHB System beteiligt gewesen sei. Außerdem hat das Gericht in Rn. 95 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass der ehemalige Mitarbeiter zwar bei OHB System kurz nach Abgabe ihres überarbeiteten Angebots im Rahmen der zweiten Phase des streitigen wettbewerblichen Dialogs ausgeschieden sei, er aber keine Informationen über den Inhalt des endgültigen Angebots von OHB System habe haben können, das am Ende der dritten Phase dieses Dialogs, in der die Kommission die Vergabebedingungen wesentlich geändert habe, fast ein Jahr nach dem Ausscheiden des ehemaligen Mitarbeiters abgegeben worden sei. Nach dieser Prüfung hat das Gericht in Rn. 96 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Kommission somit nicht verpflichtet gewesen sei, Untersuchungen zu dem im Schreiben vom 23. Dezember 2020 enthaltenen Vorbringen anzustellen, da dieses Vorbringen - seine Stichhaltigkeit unterstellt - keine ausreichenden Anhaltspunkte geboten habe, um die Vermutung zu begründen, dass ADS sich schuldhaft verhalten hätte, was die Befassung des Gremiums gerechtfertigt hätte. |
44 | In Rn. 97 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass seine Beurteilung durch das Vorbringen von OHB System, die ESA habe ADS erst am 29. Januar 2021, also nach Erlass der streitigen Beschlüsse, um Informationen über den ehemaligen Mitarbeiter ersucht, nicht in Frage gestellt werde. Hierzu hat das Gericht ausgeführt, dass dies abgesehen davon, dass sich dieses Ersuchen an das Rügeschreiben, das seinerseits jüngeren Datums sei als die streitigen Beschlüsse, angeschlossen habe, nichts daran ändere, dass der Umstand, dass ADS nach Erlass dieser Beschlüsse um diese Informationen ersucht worden sei, keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse habe, da keine Pflicht zur Befassung des Gremiums bestanden habe und da das Vorbringen von OHB System keinen Bereich betroffen habe, für den es eine Untersuchungsbefugnis der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union gebe. |
45 | Schließlich hat das Gericht in Rn. 98 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin ihren Verdacht der Kommission erst im Schreiben vom 23. Dezember 2020 mitgeteilt habe, obwohl sie bereits im November 2019 die Untersuchung des Computers des ehemaligen Mitarbeiters angeordnet gehabt habe, und bereits im März 2020 bei den zuständigen deutschen Behörden Strafanzeige gegen den ehemaligen Mitarbeiter erstattet gehabt habe. In diesem Zeitraum (November 2019 bis Dezember 2020) sei der streitige wettbewerbliche Dialog aber von seiner zweiten Phase in seine dritte Phase übergegangen, die im August 2020 begonnen habe, und im Oktober 2020 habe OHB System ihr endgültiges Angebot eingereicht. Nach Ansicht des Gerichts zeigt dieses Verhalten der Rechtsmittelführerin, dass sie - zumindest während eines längeren Zeitraums und auch bei der Einreichung ihres endgültigen Angebots - nicht davon ausging, dass das mutmaßliche Verhalten des ehemaligen Mitarbeiters ADS im Rahmen des streitigen wettbewerblichen Dialogs einen unzulässigen Vorteil verschaffen konnte. |
46 | Das Gericht ist in den Rn. 99 und 100 des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kommission nicht gegen ihre Pflicht zur Befassung des Gremiums verstoßen habe und erst recht nicht das in Rn. 65 dieses Urteils genannte dritte Ausschlusskriterium verletzt habe, so dass es den ersten Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückgewiesen hat. |
47 | In den Rn. 103 bis 112 des angefochtenen Urteils hat das Gericht den zweiten Teil des ersten Klagegrundes geprüft, mit dem ein Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und des geheimen Wettbewerbs gerügt wurde, und ihn als unbegründet zurückgewiesen. |
48 | Das Gericht hat zunächst in Rn. 104 des angefochtenen Urteils auf den Inhalt des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter hingewiesen und sodann in Rn. 106 dieses Urteils das Vorbringen von OHB System, wonach die Kommission ADS vom streitigen wettbewerblichen Dialog hätte ausschließen müssen, unter Verweis auf Rn. 100 des angefochtenen Urteils, aus dem hervorgehe, dass die Kommission im Fall von ADS die Ausschlusskriterien in Art. 136 der Haushaltsordnung nicht verletzt habe und dass es keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung darstellen könne, dass ADS nicht ausgeschlossen worden sei, zurückgewiesen. |
49 | In Rn. 107 des angefochtenen Urteils hat das Gericht zunächst festgestellt, dass im vorliegenden Fall nicht dargetan worden sei, dass Zweifel an der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Angebots von ADS bestünden, wozu OHB System "im Übrigen nichts Konkretes vorgetragen" habe, und sodann in Rn. 108 dieses Urteils festgestellt, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, das behauptete wettbewerbswidrige Verhalten von ADS aufzuklären, was erst recht für das Verhalten des ehemaligen Mitarbeiters gelte. |
50 | In den Rn. 109 und 110 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass diese Beurteilung nicht durch das auf mehrere Urteile des Gerichtshofs gestützte Vorbringen von OHB System in Frage gestellt werde, da die Sachverhalte, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, in denen diese Urteile ergangen seien, keine dem in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Sachverhalt ähnliche Sach- oder Rechtslage aufwiesen. |
51 | In Rn. 111 des angefochtenen Urteils hat das Gericht das auf das Beweismaß und die Beweislastverteilung gestützte Vorbringen von OHB System zurückgewiesen. Unter Verweis auf die Rn. 78 und 79 dieses Urteils hat das Gericht festgestellt, dass die Befassung des Gremiums voraussetze, dass der öffentliche Auftraggeber ausreichende Anhaltspunkte dafür habe, dass der Bieter im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere, die finanziellen Interessen der Union bedrohende Verfehlung begangen habe. Wie sich aus Rn. 96 des Urteils ergebe, hätten jedoch keine solchen Anhaltspunkte vorgelegen. |
52 | In den Rn. 115 bis 136 des angefochtenen Urteils hat das Gericht den zweiten Klagegrund, mit dem eine Verletzung der Pflicht zur Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote gerügt wurde, als unbegründet zurückgewiesen. |
53 | Das Gericht hat zunächst in den Rn. 115 bis 118 des angefochtenen Urteils auf den Inhalt der Nrn. 23.1 und 23.2 des Anhangs I der Haushaltsordnung sowie auf die Beurteilung in zwei Schritten hingewiesen, die der öffentliche Auftraggeber vorzunehmen habe, um sich zu vergewissern, dass ein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei, und sodann in Rn. 119 dieses Urteils darauf hingewiesen, dass der Begriff "ungewöhnlich niedriges Angebot" in der Haushaltsordnung zwar nicht definiert werde, das Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots aber anhand der Einzelposten des Angebots und der betreffenden Leistung zu beurteilen sei, und in Rn. 120 des Urteils darauf, dass Hinweise, die den Verdacht erwecken könnten, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig sei, u. a. dann vorliegen könnten, wenn es ungewiss erscheine, ob das Angebot die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge, der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und des Verkaufs unter Selbstkosten des Landes beachte, in dem die Leistungen erbracht werden müssten, und ob der angebotene Preis alle mit den technischen Aspekten des Angebots einhergehenden Kosten umfasse. Gleiches gelte, wenn der in einem eingereichten Angebot angeführte Preis erheblich niedriger sei als der Preis bei den anderen Angeboten oder als der übliche Marktpreis. |
54 | In Rn. 122 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass aus der Erteilung des Zuschlags für das Angebot von ADS implizit, aber zwangsläufig folge, dass die Kommission ebenso wie der Evaluierungsausschuss keine Hinweise dafür gesehen habe, dass dieses Angebot ungewöhnlich niedrig gewesen sei, so dass kein Anlass bestanden habe, Aufklärung darüber zu verlangen. Diese Beurteilung werde durch das Vorbringen von OHB System nicht in Frage gestellt. In den Rn. 123 und 124 dieses Urteils hat das Gericht festgestellt, dass der Unterschied zwischen dem Preis des endgültigen Angebots von ADS und dem der übrigen eingereichten Angebote für sich allein angesichts der Besonderheiten des betreffenden Auftrags kein Hinweis dafür sein können, dass das Angebot von ADS ungewöhnlich niedrig sei. Der streitige wettbewerbliche Dialog habe nämlich den Erwerb von Produkten betroffen, für die es keinen Marktpreis gebe. |
55 | In Rn. 127 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin außer dem Preisunterschied nichts Konkretes zur Stützung ihrer Behauptung vorgebracht habe, dass das Angebot von ADS ungewöhnlich niedrig hätte erscheinen müssen. Insbesondere habe sie nicht geltend gemacht, dass die Rechtsvorschriften des Landes, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollten, nicht eingehalten worden seien oder dass in den von ADS angebotenen Preis nicht alle durch die technischen Aspekte ihres Angebots verursachten Kosten eingeflossen seien. |
56 | In den Rn. 132 und 133 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass OHB System nicht dargetan habe, dass Hinweise vorgelegen hätten, die bei der Kommission den Verdacht hätten erwecken können, dass das Angebot von ADS ungewöhnlich niedrig sein könnte, und daraus geschlossen, dass die Kommission nicht zu einer Überprüfung der Einzelposten des Angebots von ADS verpflichtet gewesen sei und ihre Pflichten hinsichtlich der Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote nicht verletzt habe. |
57 | Schließlich hat das Gericht in den Rn. 134 und 135 des angefochtenen Urteils das von OHB System in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument zurückgewiesen, wonach mit ihrem Vorbringen, die Kommission habe sich nicht auf die Angabe beschränken dürfen, dass ihr das Angebot von ADS nicht ungewöhnlich niedrig erscheine, ein Begründungsmangel habe geltend gemacht werden sollen. Hierzu hat das Gericht festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin kein eigenständiges Argument zur Stützung dieser Rüge eines gerügten Begründungsmangels vorgetragen habe, sondern der Kommission lediglich vorgeworfen habe, nicht geprüft zu haben, ob ungewöhnlich niedrige Angebote vorlägen; dies stelle keine Rüge der Verletzung wesentlicher Formvorschriften - insbesondere eines Begründungsmangels der angefochtenen Beschlüsse - dar, sondern betreffe die Begründetheit dieser Beschlüsse. Anträge der Parteien des Rechtsmittelverfahrens |
58 | Mit ihrem Rechtsmittel beantragt OHB System, - das angefochtene Urteil aufzuheben und die streitigen Beschlüsse für nichtig zu erklären; - hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Gericht zurückzuverweisen; - der Kommission die Kosten aufzuerlegen. |
59 | Die Kommission beantragt, - den ersten Rechtsmittelgrund zurückzuweisen; - den zweiten und den dritten Rechtsmittelgrund als unzulässig, hilfsweise als unbegründet, zurückzuweisen; - OHB System die Kosten aufzuerlegen. Zum Rechtsmittel |
60 | Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes gerügt. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wird eine unvollständige Subsumtion mangels Berücksichtigung des Rügeschreibens gerügt. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wird die fehlende Prüfung eines Begründungsmangels gerügt. Vorbringen der Parteien |
61 | Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht OHB System im Wesentlichen geltend, das Gericht habe den in Art. 160 Abs. 1 der Haushaltsordnung genannten Grundsatz der Gleichbehandlung rechtsfehlerhaft ausgelegt und angewandt. Dieser Rechtsmittelgrund gliedert sich in zwei Teile. |
62 | Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht OHB System im Wesentlichen geltend, das Gericht habe in Rn. 106 des angefochtenen Urteils zu Unrecht festgestellt, dass ein Angebotsausschluss nur dann erfolgen könne, wenn die Ausschlusskriterien in Art. 136 der Haushaltsordnung erfüllt seien, obwohl nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unabhängig vom Vorliegen konkreter Ausschlussgründe ein Angebotsausschluss erforderlich sei, wenn das Angebot entgegen dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht eigenständig und unabhängig erstellt worden sei (Urteile vom 17. Mai 2018, Specializuotas transportas, C-531/16, EU:C:2018:324, und vom 11. Juli 2019, Telecom Italia, C-697/17, EU:C:2019:599). Dies sei aber der Fall, wenn ein Bieter bei der Angebotsabgabe über ungerechtfertigte Vorteile gegenüber den anderen Bietern verfüge, was zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung von deren Wettbewerbssituation führe. Das Gericht habe es somit zu Unrecht unterlassen, zu prüfen, ob ein Ausschluss des Angebots von ADS aufgrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung hätte erfolgen müssen. |
63 | Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes wirft OHB System dem Gericht erstens vor, in Rn. 111 des angefochtenen Urteils den geltend gemachten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung nicht auf der Grundlage der dafür geltenden Maßstäbe geprüft zu haben. Anstatt nämlich zu beurteilen, ob der öffentliche Auftraggeber in jedem Abschnitt des Verfahrens aktiv für die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der Chancengleichheit der Bieter gesorgt habe, indem er etwaige Interessenkonflikte geprüft und geeignete Maßnahmen ergriffen habe, um sie zu verhindern, aufzudecken und zu beheben, habe sich das Gericht darauf beschränkt, gemäß Art. 136 der Haushaltsordnung zu prüfen, ob ausreichende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass ADS im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere, die finanziellen Interessen der Union bedrohende Verfehlung begangen habe, die geeignet gewesen sei, eine Befassung des Gremiums zu rechtfertigen. |
64 | Zweitens habe das Gericht in den Rn. 108 bis 110 des angefochtenen Urteils zwei Rechtsfehler begangen. Zum einen habe es - in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht - nicht begründet, weshalb die in Rn. 109 des angefochtenen Urteils angeführte Rechtsprechung nicht einschlägig sein sollte, obwohl sich der Präsident des Gerichts in seinem Beschluss vom 26. Mai 2021, OHB System/Kommission (T-54/21 R, EU:T:2021:292), bei der Beurteilung der Voraussetzung des Vorliegens eines fumus boni iuris auf diese Rechtsprechung bezogen habe. Zum anderen habe das Gericht die Rechtsprechung zum Beweismaß, mit dem sich nachweisen lasse, dass weder eigenständige noch unabhängige Angebote vorlägen (Urteil vom 17. Mai 2018, Specializuotas transportas, C-531/16, EU:C:2018:324), nicht berücksichtigt, aus der sich ergebe, dass es einem abgelehnten Bieter nicht obliege, einen Vollbeweis für eine Störung des Wettbewerbs zu erbringen, sondern dass es genüge, dass er dem öffentlichen Auftraggeber die Indizien für diese Störung zur Kenntnis bringe, damit dieser verpflichtet sei, eine Prüfung vorzunehmen und den anderen Bieter, im vorliegenden Fall ADS, aufzufordern, den Beweis des Gegenteils zu erbringen. Hätte das Gericht diese Grundsätze berücksichtigt, wäre es zu dem Ergebnis gelangt, dass OHB System solche Indizien beigebracht habe. |
65 | Die Kommission hält beide Teile des ersten Rechtsmittelgrundes für unbegründet. Würdigung durch den Gerichtshof |
66 | Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund, der sich auf die Rn. 106 und 109 bis 111 des angefochtenen Urteils bezieht, wirft OHB System dem Gericht im Wesentlichen vor, dadurch einen Rechtsfehler begangen zu haben, dass es die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nur anhand der in Art. 136 der Haushaltsordnung vorgesehenen Ausschlusskriterien und nicht auch anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Erfordernis der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Angebots sowie zum Beweismaß geprüft habe, das von einem konkurrierenden Bieter verlangt werde, damit der öffentliche Auftraggeber verpflichtet sei, die von diesem Bieter insoweit vorgelegten Indizien zu prüfen. |
67 | Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 160 Abs. 1 der Haushaltsordnung für Verträge, die ganz oder teilweise aus dem Unionshaushalt finanziert werden, die Grundsätze der Transparenz, der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung gelten. Nach Abs. 2 dieses Artikels werden alle Verträge auf der Grundlage eines möglichst breiten Wettbewerbs vergeben. |
68 | Nach ständiger Rechtsprechung bedeuten der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Transparenzpflicht u. a., dass die Bieter sowohl zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Angebote vorbereiten, als auch zu dem Zeitpunkt, zu dem diese vom öffentlichen Auftraggeber beurteilt werden, gleichbehandelt werden müssen, und dass sie die Grundlage der Unionsvorschriften über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge bilden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2019, Telecom Italia, C-697/17, EU:C:2019:599, Rn. 32, und vom 13. Juni 2024, BibMedia, C-737/22, EU:C:2024:495, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
69 | Daraus folgt, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter, der die Entwicklung eines gesunden und effektiven Wettbewerbs zwischen den sich um einen öffentlichen Auftrag bewerbenden Unternehmen fördern soll, gebietet, dass alle Bieter bei der Abfassung ihrer Angebote die gleichen Chancen haben, was voraussetzt, dass die Angebote aller Wettbewerber den gleichen Bedingungen unterworfen sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2015, eVigilo, C-538/13, EU:C:2015:166, Rn. 33, und vom 8. Juni 2023, ANAS, C-545/21, EU:C:2023:451, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
70 | Somit ist der öffentliche Auftraggeber in jedem Abschnitt eines Ausschreibungsverfahrens verpflichtet, für die Einhaltung dieses Grundsatzes und damit der Chancengleichheit aller Bieter zu sorgen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Kommission/CAS Succhi di Frutta, C-496/99 P, EU:C:2004:236, Rn. 108 bis 110, und vom 12. März 2015, eVigilo, C-538/13, EU:C:2015:166, Rn. 33). |
71 | Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass der öffentliche Auftraggeber in Anbetracht seiner Pflicht, den Grundsatz der Gleichbehandlung und der Chancengleichheit aller Bieter zu beachten, die zum Kern der Unionsvorschriften über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge gehört, in jedem Fall zu prüfen hat, ob etwaige Interessenkonflikte bestehen, und geeignete Maßnahmen zu ergreifen hat, um Interessenkonflikte zu verhindern, aufzudecken und zu beheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2018, Specializuotas transportas, C-531/16, EU:C:2018:324, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
72 | In Anbetracht der in Rn. 68 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätze ist diese Rechtsprechung entgegen den Feststellungen des Gerichts in den Rn. 109 und 110 des angefochtenen Urteils auf einen Sachverhalt wie den im vorliegenden Fall in Rede stehenden übertragbar, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Bieter während eines wettbewerblichen Dialogs einen Manager für das operative Geschäft eines konkurrierenden Bieters mit weitreichendem Zugang zu den Projektdaten von dessen Angebot einstellt, insbesondere soweit dieser Manager anschließend an die Spitze der Abteilung gesetzt wurde, die dafür zuständig war, im Rahmen des wettbewerblichen Dialogs das Angebot zu erstellen, das der Bieter, der die Einstellung vorgenommen hat, einreichte. |
73 | Denn zwar wird der Gleichheitsgrundsatz nicht allein dadurch verletzt, dass während eines wettbewerblichen Dialogs ein leitender Mitarbeiter eines konkurrierenden Bieters eingestellt wird, der dem ersten Anschein nach über vertrauliche Informationen über dessen Angebot, insbesondere über die technische Strategie und die Preisberechnung, verfügen kann, doch lässt sich nicht ausschließen, dass der einstellende Bieter diese Informationen mittels dieser Einstellung erlangt hat und dass diese ihm somit im Vergabeverfahren einen unzulässigen Vorteil verschafft hat. Dies könnte dem einstellenden Bieter aber ungerechtfertigte Vorteile gegenüber den anderen Bietern verschaffen und zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung von deren Wettbewerbssituation führen. Eine solche Situation würde grundsätzlich sogar ausreichen, um zu rechtfertigen, dass das Angebot des einstellenden Bieters vom öffentlichen Auftraggeber nicht berücksichtigt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juli 2019, Telecom Italia, C-697/17, EU:C:2019:599, Rn. 51 und 52). |
74 | Mithin hat in einer solchen Situation ein öffentlicher Auftraggeber, der von objektiven Anhaltspunkten Kenntnis erlangt, die Zweifel an der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit eines Angebots aufkommen lassen, alle relevanten Umstände zu prüfen, die zur Einreichung des betreffenden Angebots geführt haben, um Faktoren, die das Vergabeverfahren beeinträchtigen könnten, zu verhindern, aufzudecken und zu beheben, gegebenenfalls auch dadurch, dass die Parteien aufgefordert werden, bestimmte Informationen und Beweise vorzulegen (Urteil vom 17. Mai 2018, Specializuotas transportas, C-531/16, EU:C:2018:324, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
75 | Im vorliegenden Fall beruhen die Erwägungen des Gerichts in den Rn. 106, 109 und 110 des angefochtenen Urteils auf einer unzutreffenden Auslegung der in den Rn. 67 bis 71 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätze. |
76 | Was im Übrigen das Beweismaß angeht, mit dem sich nachweisen lässt, dass weder eigenständige noch unabhängige Angebote vorliegen, so verlangt der Effektivitätsgrundsatz, dass der Nachweis für einen Verstoß gegen das Vergaberecht der Union nicht nur durch unmittelbare Beweise erbracht werden kann, sondern auch mittels Indizien, sofern diese objektiv und übereinstimmend sind, und dass die miteinander verbundenen Bieter in der Lage sind, den Beweis des Gegenteils zu erbringen (Urteil vom 17. Mai 2018, Specializuotas transportas, C-531/16, EU:C:2018:324, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
77 | Daraus folgt, dass der öffentliche Auftraggeber bei Vorliegen jedweden objektiven Anhaltspunkts, der Zweifel an der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit eines Angebots aufkommen lässt, nicht nur, wenn er durch unmittelbare Beweise nachgewiesen wird, sondern auch, wenn er mittels Indizien nachgewiesen wird, verpflichtet ist, alle relevanten Umstände zu prüfen, die zur Einreichung dieses Angebots geführt haben, einschließlich des Vorliegens etwaiger Interessenkonflikte. |
78 | Daher hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 111 des angefochtenen Urteils unter Verkennung der in den Rn. 74 und 76 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zur Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers, ein wettbewerbswidriges Verhalten zu prüfen, wenn ein solches behauptet und ihm zur Kenntnis gebracht worden ist, festgestellt hat, dass das auf das Beweismaß und die Beweislastverteilung gestützte Vorbringen von OHB System allein deshalb zurückzuweisen sei, weil die Befassung des Gremiums voraussetze, dass der öffentliche Auftraggeber ausreichende Anhaltspunkte dafür habe, dass der Bieter im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere, die finanziellen Interessen der Union bedrohende Verfehlung begangen habe. |
79 | Nach alledem ist dem ersten Rechtsmittelgrund stattzugeben und das angefochtene Urteil folglich aufzuheben, ohne dass der zweite und der dritte Rechtsmittelgrund, die nicht zu einer weiter gehenden Aufhebung des angefochtenen Urteils führen können, geprüft zu werden bräuchten. Zur Klage vor dem Gericht |
80 | Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hebt der Gerichtshof, wenn das Rechtsmittel begründet ist, die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen. |
81 | In Rn. 78 des vorliegenden Urteils ist festgestellt worden, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es das Vorbringen von OHB System nicht geprüft hat, mit dem sie rügt, dass die Kommission ihre Pflicht verkannt habe, bei Vorliegen eines objektiven Anhaltspunkts, der Zweifel an der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit eines Angebots aufkommen lasse, alle relevanten Umstände zu prüfen, die zur Einreichung dieses Angebots geführt hätten, einschließlich etwaiger Interessenkonflikte, und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um solche zu verhindern, aufzudecken und zu beheben. |
82 | Da das Gericht diese Prüfung, zu der es nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet war, nicht vorgenommen hat, stellt der Gerichtshof fest, dass der vorliegende Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif ist. Die Sache ist daher an das Gericht zurückzuverweisen. Kosten |
83 | Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 26. April 2023, OHB System/Kommission (T-54/21, EU:T:2023:210) wird aufgehoben. 2. Die Sache wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen. 3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten. |
Nachforderung ≠ Aufklärung!
Nachforderung ≠ Aufklärung!
Melden Sie sich jetzt an unter www.vpr-online.de, um sämtliche Entscheidungen im Volltext lesen zu können.
vpr-online ist DIE Datenbank für öffentliche Auftraggeber und Bieter sowie für alle Berater auf den Gebieten des Vergaberechts.
Mit vpr-online haben Sie außerdem jederzeit und überall Zugriff auf über 5.800 VPR-Beiträge nach dem 1-Seiten-Prinzip, über 12.114 Entscheidungen im Volltext, Arbeitshilfen, Materialien und vieles mehr.
VK Berlin
Beschluss
vom 28.04.2025
VK B 1-73/24
1. Zwischen Nachforderungen und Aufklärung des Angebotsinhalts ist streng zu unterscheiden.
2. Eine Nachforderung ist nur für leistungsbezogene Unterlagen, die nicht die Wirtschaftlichkeitsbewertung betreffen, und unternehmensbezogene Unterlagen zulässig. Die Korrektur fehlerhafter Unterlagen ist nur für unternehmensbezogene Unterlagen zulässig.
3. Die Aufklärung wiederum erlaubt keine Änderung des Angebots, also keine Nachreichung von Unterlagen und auch weder die Anforderung fehlender Bestandteile des Angebots noch die Korrektur von Angebotsunterlagen.
4. Die Aufklärung setzt eine konkrete Aufforderung zur Klarstellung einer durch den Auftraggeber eindeutig zu benennenden und tatsächlich bestehenden Unklarheit voraus.
5. Ob in der Erläuterung eines Angebots durch den Bieter zugleich eine ausschlusswürdige Änderung des Angebots darstellt, ist durch Auslegung aus der Perspektive eines objektiven Empfängers zu ermitteln (hier verneint). Bei Unklarheiten kann der Auftraggeber zur Aufklärung berechtigt und verpflichtet sein.
VK Berlin, Beschluss vom 28.04.2025 - VK B 1-73/24
Tenor:
1. Das Verfahren wird in den Stand vor Wertung der Angebote zurückversetzt.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin. Die Beigeladene trägt ihre Kosten selbst
3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragstellerin war notwendig.
4. Die Verfahrensgebühr wird auf ... Euro festgesetzt. Der Antragsgegner ist von der Zahlung der Gebühren befreit.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin ist ein Beförderungsunternehmen, das unter anderem Schülerbeförderung anbietet, der Antragsgegner ist ein Bezirk des Landes Berlin.
Der Antragsgegner schrieb die Beförderungsleistungen unter Aufteilung in Lose europaweit im offenen Verfahren aus. Die Laufzeit des ausgeschriebenen Vertrages betrug knapp 49 Monate, beginnend am 18.07.2024 bis zum 13.08.2028.
Für das streitbefangene Los war die Beförderung von vorwiegend körper- und/oder geistig behinderten Schülerinnen bzw. Schülern an Schultagen und gegebenenfalls die Beförderung von Schülerinnen und Schülern in den Ferien und zu Praktika inklusive der Tourenplanung durch den Auftragnehmer vom jeweiligen Wohnort zur Schule und zurück zu erbringen.
Als Abrechnungsgrundlage aller Touren für Los 1 galten die im Preisblatt zu 1 genannten Festpreise je besetzt Kilometer, wobei unterschieden wurde zwischen Behindertentransportkraftwagen (BTW) und Kleinbus/Kraftomnibus (KOM bzw. KB).
Mit dem Angebot war auch eine Tourenplanung beizufügen. Das Ergebnis der Tourenplanung war ebenfalls im Preisblatt einzutragen. Zuschlagskriterium war der niedrigste Gesamtpreis pro Jahr als Produkt der aus der Tourenplanung des Bieters errechneten Gesamtkilometer pro Jahr, einer Pauschale für Begleitpersonen und dem Preis pro Besetzkilometer.
In der Leistungsbeschreibung finden sich Vorgaben zur Tourenplanung. Dort heißt es u.a.:
"Aufgrund der notwendigen Vergleichbarkeit bei der Wertung der einzelnen Angebote ist die Tourenplanung ausschließlich mit Google Maps (https://maps.google.de) auf 100 m genau zu erstellen. Es dürfen für die Planung nur die Strecken von den Adressen der Schüler*innen zur offiziellen Schuladresse verwendet werden.
Die einzelnen Tourenpläne sind losweise durchzunummerieren und müssen die jeweils gefahrenen Besetztkilometer, die Abfahrts- und Ankunftszeiten, den eingesetzten Fahrzeugtyp und den vorgesehenen Einsatz einer Begleitperson (wenn im Los vorgegeben) enthalten. Die Tourenpläne sind grundsätzlich mit Karte und im Format DIN A 4 zu erstellen. Die Abgabeform erfolgt elektronisch in Textform als PDF. (
) Bitte beachten Sie, dass die in jedem Los dargestellten Übersichten, den Ist-Stand von November 2023 - Schuljahr 2023/2024 - wiederspiegeln und Ihnen lediglich als Kalkulationsgrundlage und zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit der Angebote dienen sollen. Zu Leistungsbeginn und zu Schuljahresbeginn ändert sich erfahrungsgemäß ca. ein Fünftel der zu befördernden Schüler*innen und damit die anzufahrenden Adressen/Sammelpunkte. Deshalb ist die Tourenplanung in Absprache mit dem Auftraggeber unabdingbarer Bestandteil der Leistungserbringung des zukünftigen auftragnehmenden Unternehmens."
Die Antragstellerin gab form- und fristgemäß am 05.05.2024 für Los 1 ein Angebot ab und fügte mit Google Maps erstellte Tourenpläne bei.
Mit Schreiben vom 29.05.2024 forderte der Antragsgegners die Antragstellerin über die Vergabeplattform unter der Kategorie "Nachforderungen" zur "Aufklärung" auf:
"Ihre Tourenplanung ist nicht nachvollziehbar, da die Routenplanung mit den einzelnen Adressen nicht komplett ausgedruckt wurde. Bspw. wurde die Schule nicht als Zielort bei Google Maps angegeben."
Mit Schreiben vom 30.05.2024 überreichte die Antragstellerin ein Schreiben in dessen Anhang sich eine tabellarische Auflistung sämtlicher Adressen der abzuholenden Schülerinnen und Schüler befand, die identisch war mit der im Angebot enthaltenen Liste.
Mit Schreiben vom 03.06.2024 antwortete der Antragsgegner der Antragstellerin:
"leider war Ihre Antwort vom 30.05.2024 nicht ausreichend um die Unklarheiten an Ihrem Angebot zu beseitigen und es bleibt weiterhin hinsichtlich der Tourenplanung nur bedingt prüfbar.
Die Zwischenhalte auf ihren Touren können mit den aktuell gelieferten Tourenplänen nicht genau überprüft werden. Ein Google-Maps-Link, der für jede Tour händisch eingegeben werden muss, ist hier nicht ausreichend.
Es ist möglich einen Google-Maps Ausdruck inklusive aller Zwischenhalte als PDF zu erstellen - siehe beigefügtes Beispiel. [
]
Ich bitte um Prüfung und Stellungnahme zu den Unklarheiten bezüglich Ihres Angebotes bis zum 06.06.2024. Unvollständige Angebote müssen im Weiteren unbeachtet bleiben."
Mit Schreiben vom 06.06.2024 übersandte die Antragstellerin neu erstellte Tourenpläne. Mit begleitendem Schreiben teilt sie mit:
"Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben nun alle Tourenpläne laut ihrem Muster neu erstellt und in der Anlage beigefügt- durch andere Verkehrsverhältnisse Stand heute kommt es zu leichten Abweichungen in der Besetztkilometerzahl wie folgt:
Los 1
BTW
alt 253,1 km
neu 258,4 km
+ 5,3 km/Tag KB
alt 108,1 km
neu 107,5 km
-0,6 km /Tag
Differenz
5,3 - 0,6 km = 4,7 km x 8,28 EUR= +38,92 EUR/ Tag [
]"
Der in dem Schreiben genannte Preis pro Besetztkilometer wich von dem in dem Preisblatt zu Los 1 genannten Preis nach unten ab.
Mit Schreiben vom 21.06.2024 informierte der Antragsgegner die Antragstellerin, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden könne. Begründet wurde dies wie folgt:
"Die Nichtberücksichtigung begründet sich durch das in der Aufklärungsverhandlung geänderte Angebot. Gemäß § 15 Abs. 5 Satz 2 VgV sind Verhandlungen zum eingereichten Angebot nicht zulässig. Änderungen, die Wertung relevante Gesichtspunkte, insbesondere Preise, betreffen, sind unzulässig."
Mit schreiben vom 25.06.2024 rügte die Antragstellerin den Ausschluss des Angebots und die fehlerhafte Prüfung und Wertung sowie das unrichtige Informationsschreiben nach § 134 GWB.
Mit Schreiben vom 26.06.2024 half der Antragsgegner der Rüge nicht ab.
Mit Schreiben vom 28.06.2024 legte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag ein.
Die Antragstellerin trägt vor, dass der Nachprüfungsantrag zulässig und begründet sei. Der Schwellenwert sei überschritten und die Antragstellerin auch antragsbefugt, da ihr Angebot auf Platz 1 der Rangliste liege. Die Antragstellerin habe auch rechtzeitig die Verstöße gerügt.
Die Nachforderung sei bereits unzulässig, da schon die Anforderungen des Nachweises der Tourenplanung nicht in der Bekanntmachung, sondern lediglich in der Leistungsbeschreibung enthalten gewesen seien. Überdies seien die Nachforderungen unverhältnismäßig, da dem Antragsgegner sämtliche Informationen bereits vorgelegen hätten. Die Unverhältnismäßigkeit ergebe sich auch aus der mangelnden Eignung der nachgeforderten Unterlagen, da die Wegstreckenführung bei Google Maps dynamisch sei, mithin sei es der Anforderung der Verwendung von Google Maps immanent, dass sich Wegstrecken und damit auch Preise ändern könnten, insbesondere da zwischen Abgabe des Angebots und der Nachforderung mehr als drei Wochen gelegen hätten. Es hätte entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch keine Nachverhandlung stattgefunden. Überdies habe der Antragsgegner es versäumt, die Antragstellerin vor dem Ausschluss anzuhören.
Die Antragstellerin beantragt,
1. dem Antragsgegner aufzuerlegen, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das mit der Auftragsbekanntmachung vom 08.04.2024 (OJ S 69/2024 - 203832-2024; Kennung des Verfahrens: 0f71f7a6-76cd-46b4-bfb2-88efb1d058d7; interne Kennung:
IMV_2024-04) eingeleitete offene Verfahren für Los 1 in den Stand vor Prüfung und Wertung zurückzuversetzen und ab diesem Zeitpunkt unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen.
2. dem Antragsgegner die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der notwendigen Kosten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufzuerlegen,
3. festzustellen, dass für die Antragstellerin die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.
Der Antragsgegner beantragt,
1. den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückzuweisen,
2. der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen des Antragsgegners aufzuerlegen,
3. festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts auf Seiten des Antragsgegners notwendig war.
Der Antragsgegner trägt vor, dass der Nachprüfungsantrag bereits teilweise unzulässig sei. Soweit die Antragstellerin vorträgt, die Nachforderung sei unzulässig und unverhältnismäßig, seien die Rügen bereits nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB präkludiert, da sie hätten innerhalb von 10 Tagen nach Zugang des zweiten Nachforderungsschreibens vom 03.06.2024 erhoben werden müssen. Hinsichtlich des fehlerhaften Informationsschreibens fehle die Antragsbefugnis, da der Antragstellerin dadurch kein Schaden entstanden sei.
Im Übrigen sei der Antrag auch soweit er zulässig sei, unbegründet. Die Antragstellerin habe ein unvollständiges Angebot eingereicht, da der Endpunkt der Tourenplanung in einer Tour nicht enthalten gewesen sei. Der Antragsgegner habe auch im Rahmen des § 15 Abs. 5 VgV Unklarheiten in dem Angebot aufklären dürfen, dabei habe es sich nicht um unzulässige Nachforderungen von Nachweisen oder Erklärungen gehandelt. Des Weiteren habe die Antragstellerin im Rahmen der letzten Nachreichung ihr Angebot nachträglich geändert, dies sei unzulässig. Dabei komme es auch nicht darauf an, dass sich die Strecke durch die Verwendung von Google Maps geändert habe, denn diese Veränderung sei allein deshalb aufgetreten, weil die Antragstellerin ein unvollständiges Angebot eingereicht und einen veränderten Preis genannt habe. Eine Veränderung des Angebots sei nicht durch das Ergebnis einer Aufklärung nach § 15 Abs. 5 VgV gedeckt. Diese Änderungen seien auch nicht unwesentlich gewesen. Auch ohne Aufklärung hätte das Angebot ausgeschlossen werden müssen, da nicht prüfbar gewesen sei, ob die Tourenplanung tatsächlich alle zu befördernden Kinder enthalten habe.
Dies sei aber angesichts der besonderen Schutzwürdigkeit der Kinder zwingend.
Am 10.02.2025 hat die Vorsitzende die Entscheidungsfrist letztmalig verlängert.
Mit Beschluss vom 24.02.2025 wurde das Verfahren dem hauptamtlichen Beisitzer zur alleinigen Entscheidung übertragen.
Mit Schreiben vom 25.02.2025 erteilte der hauptamtliche Beisitzer einen rechtlichen Hinweis.
Mit Beschluss vom 01.04.2025 wurde die Beigeladene dem Verfahren beigeladen.
Mit Beschluss vom 15.04.2025 erhielt die Antragstellerin Akteneinsicht in die Vergabeakte.
Die Vergabeakten des Antragsgegners lagen der Kammer vor und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Verfahrensakte der Vergabekammer nebst der beigezogenen Vergabeakte verwiesen.
II.
Der Nachprüfungsantrag war teilweise zulässig und soweit er zulässig war, auch begründet.
1. Der Nachprüfungsantrag ist, soweit er den Ausschluss des Angebots der Antragstellerin betrifft, zulässig, im Übrigen unzulässig.
Die Vergabekammer ist sachlich und örtlich zuständig, der Schwellenwert gem. § 106 GWB ist überschritten und die Antragstellerin ist überwiegend antragsbefugt. Dies gilt allerdings nicht bezüglich der Rüge gem. § 134 Abs. 1 GWB, da weder ersichtlich noch vorgetragen ist, inwieweit die Antragstellerin einen Schaden hätte erleiden können.
Soweit die Antragstellerin die Unzulässigkeit und Unverhältnismäßigkeit der Aufklärung bzw. Nachforderung rügt, kommt es darauf bereits nicht mehr an, da diese schon an sich aus formellen Gründen rechtswidrig waren (siehe 2.). Soweit die Antragstellerin den Ausschluss ihres Angebots rügt, ist diese Rüge zulässig.
2. Soweit der Antrag der Antragstellerin zulässig ist, ist er auch begründet, da der Ausschluss des Angebots der Antragstellerin diese in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt.
Dies ergab sich daraus, dass die Nachforderung der Unterlagen weder als Nachforderung noch als Aufklärung rechtmäßig waren und der Ausschluss auch nicht von deren Ergebnis hätte getragen werden können.
Dabei ist zwischen Nachforderungen nach § 56 VgV und der Aufklärung des Angebotsinhalts streng zu unterscheiden. Eine Nachforderung von Unterlagen ist nur im Rahmen der Grenzen des § 56 Abs. 2 und 3 VgV zulässig. Danach ist die Nachreichung von Unterlagen nur für leistungsbezogene Unterlagen, die nicht die Wirtschaftlichkeitsbewertung betreffen und unternehmensbezogene Unterlagen zulässig. Die Korrektur fehlerhafter Unterlagen ist nach § 56 Abs. 2 VgV nur für unternehmensbezogene Unterlagen zulässig.
Die Aufklärung nach § 15 Abs. 5 VgV wiederum erlaubt keine Änderung des Angebots, also keine Nachreichung von Unterlagen und auch weder die Anforderung fehlender Bestandteile des Angebots noch die Korrektur von Angebotsunterlagen (vgl. Ziekow/Völlink/Steck VgV § 15 Rn. 22; Beck VergabeR/Dörn VgV § 15 Rn. 28). Die Aufklärung ist nur zulässig, soweit die Angaben für die ordnungsgemäße Prüfung des Angebots benötigt werden (Ziekow/Völlink/Steck VgV § 15 Rn. 21).
a. Die Nachforderungsschreiben vom 29.05. und 03.06.2024 waren bereits nach § 56 Abs. 3 GWB rechtswidrig. Die erste Nachforderung war bereits formal rechtswidrig, da aus ihr nicht hervorging, ob es sich um eine Nachforderung oder eine Aufklärung handelte, insbesondere die Divergenz zwischen der Kommunikation im Bereich "Nachforderung" der Vergabeplattform und der Formulierung des Schreibens, die um eine Aufklärung von nicht näher genannten Unklarheiten bat, sorgte dafür. Erst das Schreiben vom 03.06.2024 ließ erkennen, dass der Antragsgegner von einer Nachforderung ausging, auch wenn auch dieses Schreiben in dieser Hinsicht nicht gänzlich eindeutig war.
Nach § 56 Abs. 3 VgV ist eine Nachforderung von Unterlagen, die der Wirtschaftlichkeitsbewertung dienen, nicht zulässig. Die Nachforderungen vom 29.05.2024 und 03.06.2024 richteten sich auf die - erst aus dem Nachforderungsschreiben vom 03.06.2024 erkennbare - Neuerstellung aller bereits eingereichten Tourenpläne. Bei den Tourenplänen handelt es sich aber um Unterlagen der Wirtschaftlichkeitsbewertung. Die Wirtschaftlichkeitsbewertung wird im vorliegenden Verfahren ausschließlich nach dem niedrigsten Gesamtpreis durchgeführt. Dieser ergibt sich aus der Addition der täglichen Kilometer der zu absolvierenden Touren, multipliziert mit der Zahl der zu erbringenden Fahrten und einem Kilometerpreis. Damit handelt es sich bei den Tourenplänen um Unterlagen zur Wirtschaftlichkeitsbewertung. Diese können nicht nachgefordert oder korrigiert werden.
Eine Nachforderung von fehlenden Unterlagen ist im Übrigen auch nur dann möglich, wenn die fraglichen Unterlagen nicht mit dem Angebot eingereicht wurden, nicht aber, wenn sie fehlerhaft waren. Eine Korrektur von Unterlagen ist nach § 56 Abs. 2 VgV nur für unternehmensbezogene Unterlagen vorgesehen. Darum handelt es sich bei den Tourenplänen allerdings nicht. Die Korrektur von wertungsrelevanten Unterlagen ist hingegen ausgeschlossen, soweit es nicht um offensichtliche Fehler geht (vgl. EuGH, Urteil vom 29. 03. 2012 − C-599/10; Beck VergabeR/Haak/Hogeweg VgV § 56 Rn. 42; Ziekow/Völlink/Steck VgV § 56 Rn. 12a). Ist jedoch bereits die Nachforderung als solche rechtswidrig und hätte gar nicht erfolgen dürfen, können aus den nachgeforderten Unterlagen keine negativen Rechtsfolgen für den Bieter gezogen werden.
b. Auch wenn die Nachforderung rechtmäßig gewesen wäre, hätte das Ergebnis keinen Ausschluss nach sich ziehen dürfen. Das folgt schon daraus, dass entgegen der Annahme des Antragsgegners das Schreiben vom 06.06.2024 keine Angebotsänderung darstellt. Bei einem Angebot handelt es sich um eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung, das gleiche gilt für die Änderung eines Angebots. Um festzustellen, ob eine solche überhaupt vorliegt, wäre die Erklärung der Antragstellerin vom 06.06.2024 zunächst einmal gem. §§ 133, 157 BGB nach dem wahren Willen der Antragstellerin von einem objektivierten Empfängerhorizont aus auszulegen gewesen. Danach stellt sich die Erklärung nach ihrem Inhalt schon nicht als Willenserklärung dar, sondern als Erläuterung der Konsequenzen der Nachforderung der Tourenplanung anhand der vom Antragsgegner vorgeschriebenen Methode der Routenplanung mittels Google Maps. Da Google Maps standardmäßig eine dynamische Routenplanung vornimmt, die bei gleichen Wegepunkten je nach Tag und Uhrzeit zu unterschiedlichen Routen kommen kann, können sich Routen bei fast einem Monat Unterschied zwischen Angebotslegung und Erfüllung der Nachforderung unterscheiden. Der Erläuterung dieses Zusammenhangs diente offenkundig die Erklärung des Schreibens vom 06.06.2024. Wie es in diesem Zusammenhang zu der Nennung eines falschen Kilometerpreises als Multiplikator kommen konnte, ließ sich auch in der mündlichen Verhandlung nicht aufklären, jedenfalls ergibt aber die Auslegung des Schreibens nicht, dass die Antragstellerin damit den angegebenen Kilometerpreis aus dem Preisblatt ändern wollte. Vielmehr enthält die einfache Nennung eines abweichenden Kilometerpreises zur Berechnung des abweichenden Tagespreises überhaupt keine Willenserklärung. Auch vom Empfängerhorizont des Antragsgegners konnte sich nichts anderes ergeben, da eine Absenkung des Kilometerpreises für die Antragstellerin als Bieterin auf Platz 1 keinen rationalen Hintergrund hätte haben können. Auch die Änderung der Gesamtlänge der Routen kann nach den Grundsätzen von Treu und Glauben keinen Ausschluss zur Folge haben, da diese nicht auf einer gewollten Änderung durch die Antragstellerin, sondern auf der Erfüllung der Vorgaben des Antragsgegners beruhte.
Im Übrigen hätte die Unklarheit hinsichtlich des Angebotspreise bei zwei sich widersprechenden Preisangaben, hätte diese nach Auslegung durch den Antragsgegner tatsächlich bestanden, den Antragsgegner tatsächlich zu einer Aufklärung berechtigt und womöglich sogar angesichts der Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, Urteil vom 18.06.2019 - X ZR 86/17) dazu verpflichtet. Entgegen dem von dem Antragsgegner zitierten Fall des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.11.2011 - 15 Verg 11/11) bestand hier jedenfalls nicht die Gefahr einer Anfechtung des Vertrags durch die Antragstellerin, die einen Ausschluss zwingend werden ließe.
c. Hingegen wäre eine Aufklärung des Angebotsinhalts, wie sie die Formulierung der Nachforderung vom 29.05.2024 nahelegt, grundsätzlich nach § 15 Abs. 5 VgV zur Klärung der Frage der Vollständigkeit der Routenplanung, also zu der im Nachprüfungsverfahren aufgeworfenen Frage, ob alle Kinder in der Routenplanung berücksichtigt waren, zulässig gewesen. Die Angebotsaufklärung dient der Klärung des Angebotsinhalts, wenn nach rechnerischer, technischer und wirtschaftlicher Prüfung noch Zweifelsfragen bezüglich des Angebotsinhalts bestehen (Ziekow/Völlink/Steck VgV § 15 Rn. 14). Dies setzt allerdings zunächst eine Auslegung des Angebotsinhalts voraus (KG, Beschluss vom 20.03.2020 - Verg 7/19; Ziekow/Völlink /Steck VgV § 15 Rn. 14; Beck VergabeR/Dörn VgV § 15 Rn. 34; MüKoEuWettbR/Fett VgV § 15 Rn. 34). Die Aufklärung ist bereits unstatthaft, wenn nach Auslegung keine Unklarheit bestand (OLG Bremen, Beschluss vom 22.03.2007 - Verg 3/07).
Die Aufforderung zur Aufklärung hätte aber eine konkrete Aufforderung zur Klarstellung einer durch den Antragsgegner eindeutig zu benennenden und tatsächlich bestehenden Unklarheit vorausgesetzt. Die Formulierung, dass "bspw. die Schule nicht als Zielort bei Google Maps" angegeben wurde, genügt dem ebenso wenig wie die Aufforderung "Ich bitte um Prüfung und Stellungnahme zu den Unklarheiten bezüglich Ihres Angebotes bis zum 03.06.2024", wenn diese nicht vollständig benannt wurden. Die Benennung der zu prüfenden Unklarheit fehlt vorliegend, weder aus der Aufforderung vom 29.05.2024 noch aus der Aufforderung vom 03.06.2024 geht hervor, worin die aufzuklärende Unklarheit bestanden haben könnte. Eine unvollständige Tourenplanung oder fehlende Wegpunkte stellen jedenfalls vorliegend keine Unklarheit dar, sondern möglicherweise ein unvollständiges Angebot.
Die vom Auftraggeber darzulegende Unklarheit bedarf auch zunächst einer Auslegung des Angebots (s.o.), nur wenn nach einer Auslegung noch Unklarheiten bestehen, kann überhaupt eine Aufklärung erfolgen. Dies liegt jedoch vorliegend ausweislich der Vergabeakte nicht vor.
Soweit sich der Antragsgegner schriftsätzlich darauf beruft, er habe nicht prüfen können, ob sämtliche in der Routenplanung zu berücksichtigenden Kinder tatsächlich berücksichtigt worden seien, steht dem entgegen, dass dies ausweislich der Vergabeakten die ordnungsgemäße Prüfung des Angebots hinsichtlich dieses Punkts nicht verhindert hat. Die Vergabeakte enthält einen Prüfvermerk (Ordner I Teil 1, S. 180f) in Form einer Tabelle zum Angebot der Antragstellerin aus Los 1, in dem sämtliche zu berücksichtigenden Kinder aufgeführt wurden und mit einem grünen Kreuz versehen wurden; in identischen Tabellen wurde bei anderen Bietern durch rote Kreuze festgestellt, dass nicht alle Kinder in der Routenplanung enthalten waren. Damit hat der Antragsgegner dokumentiert, dass er das Angebot in diesem Punkt vollständig und ordnungsgemäß prüfen konnte und dies auch getan hat. Die angeblich aufzuklärende Unklarheit bezog sich laut Vergabeakte lediglich darauf, dass die Schule als Zielpunkt bei einer Route nicht benannt worden sei. Inwiefern dies die notwendige Prüfung der Routenplanung unmöglich gemacht haben soll, ergab sich allerdings nicht aus der Vergabeakte und auch nicht aus der mündlichen Verhandlung. Denn die Schule als Endpunkt war in der Tabelle nicht Teil der Prüfung des Streckenplans.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Nach § 182 Abs. 3 S. 1 GWB hat ein Beteiligter die Kosten zu tragen, soweit er im Verfahren unterliegt.
Aufwendungen der Beigeladenen sind gem. § 182 Abs. 4 S. 2 GWB nur erstattungsfähig, soweit die Kammer diese aus Gründen der Billigkeit der unterliegenden Partei auferlegt. Vorliegend entspricht es der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre Kosten selbst trägt. Die Beigeladene hat in dem Verfahren weder an der mündlichen Verhandlung teilgenommen, noch Anträge gestellt, und sich auch nicht durch schriftsätzlichen Vortrag am Verfahren beteiligt, so dass es der Billigkeit entspricht, dass die Beigeladene ihre Kosten selbst trägt, da sie sich auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
Die Festsetzung der Verfahrensgebühr beruht auf § 182 Abs. 2 GWB und entspricht dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer. Die Vergabekammer zieht als Ausgangspunkt insofern die auftragswertorientierte Gebührentabelle der Vergabekammern des Bundes (derzeit abrufbar unter https://www.bundeskartellamt.de/DE/Vergabe-recht/Materialien/Materialien_node.html) heran. Dabei legt die Kammer im vorliegenden Fall den Bruttoangebotspreis der Beigeladenen zugrunde, der den Wert des Auftrags repräsentiert. Unter Beachtung des personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer für das hiesige Nachprüfungsverfahren, welches trotz der ausführlichen Schriftsätze der Beteiligten und der mündlichen Verhandlung gerade noch durchschnittlich umfangreich war, ergibt sich eine Verfahrensgebühr in Höhe von ... EUR. Der Antragsgegner ist gemäß § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 2 VwKostG allerdings von der Zahlung der Gebühren befreit.
Nach § 182 Abs. 4 S. 1 GWB hat der Antragsgegner die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen. Auf den Antrag der Antragstellerin stellt die Vergabekammer nach § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2, 3 Satz 2 VwVfG die Notwendigkeit der Hinzuziehung ihrer Verfahrensbevollmächtigten fest. Ob die Hinzuziehung eines anwaltlichen Vertreters im Verfahren vor der Vergabekammer notwendig ist, kann nicht schematisch, sondern stets nur auf der Grundlage einer differenzierenden Betrachtung des Einzelfalles entschieden werden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26.09.2006 - X ZB 14/06; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 30.03.2010 - 11 Verg 3/10). Entscheidend ist dabei, ob die Antragstellerin unter den konkreten Umständen des Falls selbst in der Lage gewesen wäre, auf Grund der bekannten oder erkennbaren Tatsachen den Sachverhalt zu erfassen, hieraus die für eine sinnvolle Rechtsverfolgung nötigen Schlüsse zu ziehen und entsprechend gegenüber der Vergabekammer vorzutragen (vgl. schon VK Berlin, Beschluss vom 26.08.2014 - VK - B 1 - 10/14 m.w.N.). Danach ist die Hinzuziehung vorliegend notwendig gewesen. Vorliegend geht es um Mängel des Vergabeverfahrens im Bereich der Wertung der Angebote, Fragen der Abgrenzung von Nachforderung und Aufklärung sowie den Ausschluss der Antragstellerin aus dem Verfahren. Es kann von der Antragstellerin nicht erwartet werden, derartig komplexe Fragen des Vergaberechts, bei dem es sich noch dazu um eine Spezialmaterie handelt (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 12.11.2020 - 54 Verg 2/20), tatsächlich und rechtlich ohne Rechtsbeistand zu lösen und vor der Kammer entsprechend vorzutragen.
(Rechtsmittelbelehrung)
Errichtung von VDI-Infrastruktur ist Dienstleistungsauftrag!
Errichtung von VDI-Infrastruktur ist Dienstleistungsauftrag!
Melden Sie sich jetzt an unter www.vpr-online.de, um sämtliche Entscheidungen im Volltext lesen zu können.
vpr-online ist DIE Datenbank für öffentliche Auftraggeber und Bieter sowie für alle Berater auf den Gebieten des Vergaberechts.
Mit vpr-online haben Sie außerdem jederzeit und überall Zugriff auf über 5.800 VPR-Beiträge nach dem 1-Seiten-Prinzip, über 12.113 Entscheidungen im Volltext, Arbeitshilfen, Materialien und vieles mehr.
VK Berlin
Beschluss
vom 04.04.2025
VK B 1-3/25
1. Ein Auftrag über die die "Errichtung einer VDI-Infrastruktur, Lieferung und Montage von Rechenzentrumscontainern" ist kein Bauauftrag, sondern ein Dienstleistungsauftrag.
2. Die Nichtbeantwortung von Bieterfragen ist vergaberechtswidrig und verletzt den Bieter in seinen Rechten. Es besteht keine Bieterobliegenheit, den öffentlichen Auftraggeber an die Beantwortung von Bieterfragen zu erinnern.
3. Die 30-Tages-Frist zur Feststellung der Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags ist nicht anwendbar, wenn die Information der Bieter durch den öffentlichen Auftraggeber unzureichend ist.
4. Im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren besteht keine aktive Nutzungspflicht des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA). Die Vorschrift des § 130d ZPO ist im Vergabenachprüfungsverfahren nicht (analog) anwendbar.
VK Berlin, Beschluss vom 04.04.2025 - VK B 1-3/25
Tenor:
1. Es wird festgestellt, dass der Vertrag vom 13.12.2024 unwirksam ist.
2. Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu jeweils 50%.
3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragstellerin war notwendig.
4. Die Verfahrensgebühr wird auf ... Euro festgesetzt. Auslagen der Vergabekammer werden nicht geltend gemacht.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin und die Beigeladene sind jeweils Unternehmen, die unter anderem Komponenten für Rechenzentren herstellen und vertreiben, der Antragsgegner ist eine Bezirksverwaltung im Land Berlin.
Mit E-Mail vom 6.11.2024 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin, die Beigeladene sowie weitere Unternehmen per E-Mail auf, ein Angebot für die "Errichtung einer VDI-Infrastruktur, Lieferung und Montage von Rechenzentrumscontainern" abzugeben. Die Leistungen wurden unter der Bezeichnung "Elektroinstallationen, Installationen von Schaltanlagen / 45315700-5" ausgeschrieben und als Liefer- und Dienstleistungen qualifiziert. In der Angebotsaufforderung sowie den Zusätzlichen Vertragsbedingungen (ZVB) wurde die Vergabe wie folgt beschrieben:
"Vergabeverfahren gemäß Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Verbindung mit der Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (VgV)"
Der Angebotsaufforderung war ein Formular (Wirt-211) beigefügt, das irreführend angab, es handele sich um ein nichtoffenes Verfahren.
Nebenangebote waren zugelassen, jedoch wurden keine konkreten Bedingungen oder Mindestanforderungen hierfür definiert.
Das Leistungsverzeichnis enthielt folgende, als Nebenangebot bezeichnete Option:
"Weiterhin sind die Tiefbauarbeiten wie Fundament, Plattierung, Zaun und Zuwegung sowie Herrichtung von Außenanlagen nicht enthalten. Es wäre wünschenswert wenn die Anbieter hierzu ein Nebenangebot abgeben"
Die Kostenschätzung des Auftraggebers wies für die Bereiche Bauvorbereitung, Elektroinstallationen und Blitzschutz insgesamt einen Nettowert von ca. 75.000 EUR aus, während die Bereiche der Lieferung der Rechenzentrumscontainer, der Schranksysteme, der Kühlungsanlagen und der USV-Systeme einen Nettowert von ca. 700.000 EUR auswiesen.
Das Leistungsverzeichnis enthielt in Ziffer 2.4 die Aussage, dass die zu liefernden Container entweder fertig oder teilfertig geliefert werden könnten. Auch Teile der zu liefernden Ausstattung der Container wie die Kühlung könnten schon an den Containern montiert geliefert werden.
Die Beigeladene wies in der mündlichen Verhandlung vom 03.04.2025 mehrfach darauf hin, dass es sich bei den Containern um von dem Auftragnehmer anzufertigende Spezialanfertigungen handele, die nach den Wünschen und speziellen Maßen des Auftraggebers vom Auftragnehmer gefertigt und vor Ort zusammengesetzt würden.
Der ursprüngliche Termin für die Einreichung von Angeboten wurde auf den 27.11.2024 festgesetzt.
Mit Beantwortung von Bieterfragen vom 14.11.2024 per E-Mail legte der Antragsgegner fest, dass die anzubietenden Batterien für die USV eine Autonomiezeit von 45 Minuten ermöglichen müssen.
Die Antragstellerin reichte im Verlauf des Verfahrens unter anderem am 21.11.2024 mehrere Bieterfragen ein. Diese betrafen insbesondere:
- technische Aspekte des Leistungsverzeichnisses,
- die Bedingungen für die Zulassung und Bewertung von Nebenangeboten,
- Unklarheiten zur Rechnungsstellung und den Zahlungsbedingungen.
Mit Bieterfragenbeantwortung per E-Mail vom 25.11.2024 teilte der Antragsgegner mit, dass die Frist für die Einreichung von Angeboten bis zum 04.12.2024 verlängert werde und dass es möglich sei,
"vom LV losgelöste Nebenangebote zuzusenden. Grundlage: da das im LV angegebene Kältemittel im Jahr 2025 nicht in Einsatz kommen darf".
Die zu den Antworten gehörigen Bieterfragen waren nicht in der Vergabeakte enthalten.
Mit Bieterfrage vom 21.11.2024 fragte die Antragstellerin, in welcher Form Alternativen bei
Nebenangeboten gekennzeichnet werden sollten. Eine Antwort auf die Frage erfolgte nicht.
Die Antragstellerin reichte fristgerecht am 2.12.2024 ein Hauptangebot, aber kein Nebenangebot ein. Dies wurde dem Antragsgegner bei der Angebotsabgabe von der Antragstellerin ausdrücklich mitgeteilt.
Neben der Antragstellerin reichten die Beigeladene ein Nebenangebot (ohne Hauptangebot) sowie zwei andere Bieter ein Angebot ein.
Mit Schreiben vom 06.12.2024 forderte der Antragsgegner die Beigeladene zur Aufklärung ihres Angebots und zur Nachlieferung bzw. Änderung von Preisen ihres Angebots auf. Insbesondere forderte der Antragsgegner den Mehrpreis für 45 Minuten USV-Überbrückungszeit anzugeben. Das Angebot vom 04.12. enthielt eine USV-Überbrückungszeit von 30 Minuten. In der Auswertung der Angebote stellte der Antragsgegner fest, dass unklar sei, ob die Klimatisierung wie gefordert teilweise über die USV betrieben werden könne. Mit Schreiben vom 09.12.2024 reichte die Beigeladene ein neues Angebot ein, das die Anforderungen an die Autonomiezeit der USV von 45 Minuten erfüllte und das um eine mittlere fünfstellige Summe über dem Angebot vom 04.12.2024 lag.
Mit E-Mail vom 13.12.2024 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass deren Angebot nicht das wirtschaftlichste sei. Angaben dazu, ob der Zuschlag bereits erteilt worden war oder welches Unternehmen den Zuschlag erhalten sollte, wurden nicht gemacht.
Mit E-Mail vom 13.12.2024 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass deren Angebot nicht das wirtschaftlichste sei. Angaben dazu, ob der Zuschlag bereits erteilt worden war oder welches Unternehmen den Zuschlag erhalten sollte, wurden nicht gemacht.
Mit E-Mail vom 16.12.2024 beanstandete die Antragstellerin die Absage sowie die unzureichende Beantwortung der Bieterfragen vom 21.11.2024. Zudem forderte sie den Antragsgegner zur Übersendung folgender Informationen auf:
- das vollständige Submissionsergebnis,
- eine Klärung zu den Bedingungen der Rechnungsstellung und Zahlungsmodalitäten,
- eine Mitteilung, ob bereits ein Zuschlag erteilt worden sei,
- eine Präzisierung der Vorgaben für die Einreichung von Nebenangeboten, insbesondere im Hinblick auf die Nutzung der GAEB-Datei, die keine Änderungen zuließ.
Die Antragstellerin wies darauf hin, dass ein Zuschlag gemäß § 134 Abs. 2 GWB frühestens nach Ablauf der 10-tägigen Stillhaltefrist erfolgen dürfe.
In seiner Antwort vom 17.12.2024 erklärte der Antragsgegner, dass ihm ein Fehler in der
Wahl der Formulare für die Vergabeart unterlaufen sei. Aufgrund der besonderen Dringlichkeit und Sicherheitsinteressen sei ein Verfahren "in Anlehnung an eine beschränkte Ausschreibung nach UVgO" gewählt worden. Die Wahl der Kommunikation per E-Mail begründe zudem ein Verfahren im Unterschwellenbereich, das keine Vorabinformation gemäß § 134 GWB erfordere.
Der Antragsgegner übersandte mit dem Schreiben das Submissionsprotokoll vom
04.12.2024 mit der Eintragung, dass der "Bieter Nr. 2" - gemeint war wohl die Beigeladene - mit seinem "wirtschaftlichen Nebenangebot den Zuschlag erhalten habe". Enthalten war der Preis des Angebots vom 04.12.2024.
Zur Gleichwertigkeitsprüfung von Nebenangeboten und deren Einreichungsbedingungen führte die Antragsgegnerin aus:
"Bezüglich Ihrer Bieteranfrage zur Abgabe von Alternativen haben Sie bis zur Angebotsfrist zum 04.12.2024 nicht nochmal nachgefragt. Insofern dachten wir, dass Ihre Nachfrage auch mit der nochmaligen Bestätigung einer Einreichung von Nebenangeboten (unsere E-Mail vom 25.11.2024) beantwortet wurde. Mit der Abgabe Ihres Angebotes haben Sie für uns keinen Zweifel an der Verständlichkeit einerseits der Möglichkeit von Alternativangaben zu Bietertextergänzungen als auch Nebenangeboten gelassen.
Mit der Abgabe Ihres Angebotes ohne nochmalige Nachfrage können wir davon auszugehen, dass dies keine Auswirkungen auf Ihre Angebotserstellung hatte. Selbstverständlich können Sie davon ausgehen, dass bei Angabe von Alternativen in Positionen im Rahmen von Bietertextergänzungen, die jeweiligen technischen Daten mit der ausgeschriebenen Qualität auf Gleichwertigkeit bei der Auswertung der Angebote erfolgte."
Die Antragstellerin forderte den Antragsgegner mit E-Mail vom 18.12.2024 zur Aufhebung des Vergabeverfahrens und Neuausschreibung auf. Sie bemängelte die unzureichende Transparenz und wies erneut darauf hin, dass der EU-Schwellenwert deutlich überschritten sei.
Mit E-Mail vom 20.12.2024 teilte der Antragsgegner mit, dass der Zuschlag erteilt worden sei, ohne jedoch das erfolgreiche Unternehmen oder den Zuschlagstermin zu nennen. Ein Vorabinformationsschreiben gemäß § 134 Abs. 1 GWB wurde nicht übermittelt.
Mit Schreiben vom 20.01.2025 stellte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag.
Die Antragstellerin trägt vor, dass der Auftrag vergeben wurde, ohne dass er ordnungsgemäß bekannt gemacht worden sei und ohne dass die Wartefrist des § 134 Abs. 1 GWB eingehalten worden sei. Durch die Art der Verfahrensführung, insbesondere die unklare Wahl der Verfahrensart sowie die fehlende Benennung von Mindestanforderungen bei Nebenangeboten seien die Rechte der Antragstellerin verletzt worden. Die Frist des § 135 Abs. 2 S. 1 GWB habe nicht zu laufen begonnen, da die vom Antragsgegner gemachten Angaben nicht ausreichend gewesen seien. Es gelte damit nicht die 30-Tage-Frist sondern die sechsmonatige Frist.
Die Antragstellerin habe auch der Rügepflicht genügt.
Die Antragstellerin beantragt,
1. festzustellen, dass der zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen am 13.12.2024 geschlossene Vertrag über die Errichtung einer VDI-Infrastruktur, Lieferung und Montage von Rechenzentrumscontainern gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB unwirksam ist,
2. der Antragstellerin Akteneinsicht zu gewähren,
3. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlichen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen und
4. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären.
Der Antragsgegner beantragt,
1. den Nachprüfungsantrag zu verwerfen,
2. die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen.
Der Antragsgegner trägt vor, dass die Vergabekammer Berlin bereits nicht zuständig sei, da es sich um einen Bauauftrag handele, da die zu liefernden Container dauerhaft aufgestellt werden. Dafür bedürfe es einer Baugenehmigung. Damit sei der einschlägige Schwellenwert für Bauleistungen gem. § 106 GWB von 5.538.000 EUR nicht erreicht, da die Kostenschätzung bei ca. 1 Mio. EUR lag. Im Übrigen sei der Antrag gem. § 168 Abs. 2 GWB nicht zulässig, da der Zuschlag bereits erteilt worden sei. Die Frist des § 135 Abs. 2 S. 1 GWB sei bereits abgelaufen, da der Antragstellerin durch das Schreiben vom 13.12.2024 der Vertragsschluss mitgeteilt worden sei und spätestens mit Übermittlung des Submissionsprotokolls am 17.12.2024 die Frist begann, da ihr alle wesentlichen Merkmale des Angebots der Beigeladenen vorlagen und sie darüber informiert worden sei, dass die Beigeladene den Zuschlag erhalten habe. Diese Frist sei spätestens am 16.01.2025 abgelaufen. Die Frist des § 135 Abs. 2 S. 1 GWB erfordere hingegen keine § 134 Abs. 1 GWB entsprechende Zuschlagsmitteilung des Auftraggebers.
Die Beigeladene beantragt,
1. den Nachprüfungsantrag zu verwerfen,
2. die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen und
3. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären.
Die Beigeladene trägt vor, dass der Antrag bereits unzulässig sei, weil er entgegen § 130a ZPO i.V.m. 130d ZPO nicht per BeA eingereicht worden sei. Diese seien analog anzuwenden, so dass wegen der Anwendungspflicht des § 130d ZPO eine Einreichung von Nachprüfungsanträgen durch Anwälte nur per BeA möglich sei. Des Weiteren sei die Vergabekammer nicht zuständig, da es sich um einen Bauauftrag handele. Dies folge zum einen daraus, dass die Leistung sich insgesamt als Bauleistung darstelle, dass es sich insgesamt um einen Werkvertrag handele und dass eine Baugenehmigung erforderlich sei. Insgesamt prägten Bauleistungen die gesamte Vergabe. Auch der Bau von Schulgebäuden oder Asylbewerberunterkünften stelle sich regelmäßig als Bauleistung dar. Das OLG Düsseldorf habe in einer Entscheidung entschieden, dass auch die Lieferung eines Autoklaven zum Einbau in ein Gebäude eine Bauleistung darstelle. So liege der Fall auch hier.
Mit Verfügung vom 24.02.2025 hat die Vorsitzende die Entscheidungsfrist letztmalig verlängert.
Mit Beschluss vom 25.02.2025 wurde das Verfahren gem. § 157 Abs. 3 GWB dem hauptamtlichen Beisitzer zur alleinigen Entscheidung übertragen.
Mit Beschluss vom 25.02.2025 wurde die Beigeladene beigeladen.
Mit Schreiben vom 26.02.2025 erteilte der hauptamtliche Beisitzer einen rechtlichen Hinweis.
Die Vergabeakten des Antragsgegners lagen der Kammer vor und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Verfahrensakte der Vergabekammer nebst der beigezogenen Vergabeakte verwiesen.
II.
Dem Nachprüfungsantrag war stattzugeben, da dieser zulässig und begründet ist, da die Rechte der Antragstellerin aus § 97 Abs. 6 GWB durch die Gestaltung des Vergabeverfahrens verletzt wurden.
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist der einschlägige Schwellenwert gem. § 106 GWB überschritten.
a. Der Antrag wurde gem. § 161 GWB in zulässiger Weise schriftlich per Fax eingereicht. Zwar mag § 130a ZPO analog anwendbar sein (vgl. BayObLG, Beschluss vom 11.09.2024 - Verg 1 / 24 e, obiter dictum), so dass eine Einreichung ausschließlich per BeA auch zulässig wäre und der gem. § 161 GWB geforderten Schriftform entspricht. Jedenfalls kann aber eine analoge Anwendung von § 130a ZPO i.V.m. § 130d ZPO die auf das Nachprüfungsverfahren im Vergaberecht beschränkte Sonderregelung des § 161 GWB nicht verdrängen. Das ergibt sich zum einen daraus, dass entgegen der Ansicht der Beigeladenen schon gar keine planwidrige Regelungslücke besteht. Anders als die Vorschriften für gerichtliche Verfahren enthalten die gerichtsähnlich ausgestalteten Verwaltungsverfahren der §§ 54, 74 GWB sowie § 213 TKG genauso wie das in den §§ 155ff. GWB geregelte vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren keine Regelungen zu einer elektronischen Einreichung von Anträgen, geschweige denn eine § 130d ZPO entsprechende Vorschrift zur verpflichtenden Nutzung. In § 87a Abs. 1 S. 2 AO hat der Gesetzgeber erst im Herbst 2024 ein Verbot der Nutzung des BeA gegenüber den Finanzämtern eingeführt. Insofern kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber eigentlich beabsichtigt hatte, gerade für das in den §§ 155 ff. GWB geregelte Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern eine aktive Nutzungspflicht des BeA einzuführen. Auch das nicht weiter verfolgte "Vergabetransformationspaket" aus dem Herbst 2024 sah eine solche Pflicht nicht vor, auch wenn eine elektronische Einreichung von Nachprüfungsantragen vorgesehen war.
Zum anderen verbietet sich schon methodisch eine analoge Anwendung von Vorschriften gegen den ausdrücklichen Gesetzeswortlaut des § 161 GWB. Auch dies spricht gegen das Bestehen einer planwidrigen Gesetzeslücke.
b. Der gem. § 106 GWB einschlägige Schwellenwert von 221.000 EUR wurde überschritten. Insbesondere handelt es sich entgegen der Einschätzung des Antragsgegners und der Beigeladenen nicht um einen Bauauftrag, so dass nicht der Schwellenwert von 5.538.000 EUR anwendbar ist. Die Abgrenzung eines Bauauftrags von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen richtet sich gem. § 110 GWB nach dem Hauptgegenstand des zu vergebenden Auftrags (vgl. EuGH, Urteil vom 21.02.2008 - C-412/04; OLG Schleswig, Beschluss vom 28.03.2024 - 54 Verg 9/23; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2019 - VII-Verg 66/18). Die Definition von Bauaufträgen folgt nach § 103 Abs. 3 GWB aus dem Anhang II der RL 2014/24 EU. Nur Aufträge, deren Hauptgegenstand dort genannte Tätigkeiten sind, stellen Bauaufträge dar (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.4.2014 - VII-Verg 35/13). Die danach für den hier relevanten Hochbau einschlägige Klasse 45.21 enthält unter anderem die hier einschlägigen Hochbauleistungen. Nicht enthalten in der Klasse sind nach der Tabelle Aufträge, soweit Inhalt des Auftrags die "Errichtung vollständiger Fertigteilbauten aus selbst gefertigten Teilen, soweit nicht aus Beton" ist.
Es handelt sich auch nicht um die Planung und Ausführung eines Bauwerks nach § 103 Abs. 3 Nr. 2 GWB. Auch dafür ist die Voraussetzung, dass es sich bei den vergebenen Tätigkeiten um Bauleistungen i.S.d. Anhang II der RL 2014/24 EU handelt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.4.2014 - VII-Verg 35/13; M).
Auch weitere Leistungen wie die Errichtung des Fundaments, die Plattierung und weitere Tiefbauarbeiten, bei denen es sich zum Teil um Bauleistungen handelt, sind schon deshalb nicht Hauptgegenstand der zu vergebenden Leistung, da diese optional in einem "Nebenangebot" abgegeben werden können, aber nicht müssen.
Vorliegend handelt es sich bei der Lieferung der Container und der weiteren Liefergegenstände auch nicht um Lieferungen in Zusammenhang mit einem Bauwerk, was den gesamten Auftrag zu einem Bauauftrag machen könnte. Denn die strittige Lieferung, der eventuelle Zusammenbau und die Aufstellung der Container wäre bei dieser Betrachtung selbst schon der Bauauftrag. Dabei handelt es sich aber gerade nach Klasse 45.21 der Tabelle des Anhang II der RL 2014/24 EU nicht um Bauleistungen, da die Container einerseits unstrittig, und wie von der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung mehrfach betont, von den Auftragnehmern herzustellende Fertigteile sind und ebenso unstrittig nicht aus Beton bestehen. Diese Fertigteile können nach dem Ziffer 2.4 des Leistungsverzeichnisses entweder fertig oder teilfertig geliefert werden. Daher handelt es sich bei der Errichtung des Containerrechenzentrums aus vom Auftragnehmer zu liefernden Containern nicht um einen Bauauftrag nach § 103 Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 2 GWB, sondern um einen Lieferauftrag, wie er auch von dem Antragsgegner während des Vergabeverfahrens bezeichnet wurde. Anders als in dem von der Beigeladenen zitierten Fall des OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.12.2019 - Verg 53/18) führen hier die Lieferleistungen auch nicht zu einem schwerwiegenden Eingriff in die vorhandene Bausubstanz eines Gebäudes, um überhaupt die Leistung funktional anbieten zu können. Denn ohne die Lieferung der Container gibt es kein Gebäude, in dessen Substanz eingegriffen werden könnte. Die Container wiederum sind Liefergegenstand des Vertrags.
Keine Rolle spielt es sowohl nach GWB als auch nach der RL 2014/24 EU, ob für die Erbringung des Auftrags eine Baugenehmigung notwendig ist. Auch der - als Bauleistung qualifizierte - verwendete CPV-Code 45315700-5 führt nicht dazu, dass es sich bei der nachgefragten Leistung um eine Bauleistung handelt. Soweit Bauleistungen sowie nach Klasse 45.31 als Bauleistungen anzusehende Elektroinstallationsleistungen Teil des Auftrags sind, handelt es sich dabei lediglich um einen geringen Teil der Auftragssumme, im Bereich zwischen 10 und 15%, der auch nicht prägend für die Gesamtleistung und daher nicht Hauptgegenstand der Leistung ist. Der verwendete CPV-Code hingegen ist nicht konstitutiv für die Kategorisierung der Leistung. Zwar enthält das Leistungsverzeichnis unter Ziffer 4 - fälschlicherweise als Nebenangebot betitelt - auch optionale Bauleistungen, diese machen jedoch auch nicht den Hauptgegenstand der ausgeschriebenen Leistung aus. Das ergibt sich bereits daraus, dass diese einerseits als Nebenangebot betitelt wurden und andererseits es den Bietern freigestellt wurde, diese überhaupt anzubieten. Die weiteren Leistungen des Leistungsverzeichnisses sind weit überwiegend Lieferleistungen.
Damit ist der Schwellenwert für Dienst- und Lieferleistungen von 221.000 EUR anwendbar, dieser wurde auch nach Schätzung des Antragsgegners deutlich überschritten.
c. Es wurde auch die 6-Monatsfrist nach § 135 Abs. 2 S. 1 2. Hs GWB eingehalten. Vorliegend ist nicht die Frist von 30 Kalendertagen nach § 135 Abs. 2 1. Hs. GWB einschlägig, da die Anforderungen an die Information der Antragstellerin nicht erfüllt wurden. Die Information der Antragstellerin vom 13.12.2024 über den Zuschlag an eine andere Bieterin genügt nicht den Ansprüchen eines Schreibens nach § 135 Abs. 2 S.1 GWB. Danach muss der Auftraggeber die nicht erfolgreichen Bieter über die Merkmale informieren, die das bezuschlagte Angebot gegenüber den anderen Angeboten auszeichnen. Diese Informationen müssen zutreffend sein. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Weder ist für die Antragstellerin aus der am 13.12. versandten Information erkennbar, welches Unternehmen den Zuschlag erhalten hat noch sind die Merkmale des Angebots erkennbar, durch welche sich das Angebot gegenüber dem Angebot der Antragstellerin auszeichnet. Grundsätzlich wäre die Information, dass ein Angebot wirtschaftlicher ist, bei einem reinen Preiswettbewerb ausreichend, wenn auch der Preis genannt wird. Vorliegend wurde allerdings die Möglichkeit eröffnet, Nebenangebote und (als Nebenangebote bezeichnete) optionale Leistungen anzubieten, damit wurden auch Abweichungsmöglichkeiten der Angebote voneinander jenseits des Preises eröffnet. Diese hätten daher auch in einer Information nach § 135 Abs. 2 GWB ihren Platz finden müssen. Daher wurde die 30-Tage-Frist des § 135 Abs. 2 S. 1 GWB nicht durch das Schreiben vom 13.12.2024 in Gang gesetzt. Auch spätere Informationen wie die Information über die eingegangenen Angebote können die Frist nicht in Gang setzen, da diese bereits fehlerhaft sind. Mit Schreiben vom 17.12.2024 wurde der Antragstellerin das Submissionsprotokoll übermittelt, das einen Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen vom 04.12.2024 ausweist. Tatsächlich wurde das Angebot der Beigeladenen noch mit Schreiben vom
09.12.2024 verändert, insbesondere wurden sowohl Inhalte als auch Preise geändert. Dabei handelt es sich um neues Angebot, auf dieses wurde auch mit Schreiben vom 13.12.2024 rechtswidrigerweise (siehe 2. b. aa.) der Zuschlag erteilt. Damit waren die Informationen, die der Antragstellerin über den Zuschlag übermittelt wurden, nicht zutreffend. Des Weiteren geht auch aus diesen Informationen nicht hervor, welche Merkmale das Angebot hat. Dies wäre insbesondere angesichts des Zuschlags auf ein nicht näher beschriebenes rechtswidrig bezuschlagtes Nebenangebot notwendig gewesen. Es liegt somit keine sonstige eine Frist in Gang setzende Information der Antragstellerin vor. Die bloße Kenntnis der Auftragsvergabe genügt hingegen entgegen der vorigen Gesetzesfassung des § 101b GWB a.F. und der Ansicht des Antragsgegners nicht für den Beginn der Frist. Es bleibt also bei der 6-Monatsfrist, diese wurde eingehalten.
d. Die Rüge der unterbliebenen Vorinformation ist auch nicht nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB präkludiert, da sie innerhalb von 10 Tagen nach Kenntnis des rechtswidrigen Verhaltens, also der Kenntnis des Vertragsschlusses ohne Einhaltung der 10-Tagesfrist des § 134 GWB, erhoben wurde.
Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt, insbesondere hat sie ein Angebot abgegeben und dargelegt, dass sie durch die Gestaltung des Vergabeverfahrens durch den Antragsgegner in ihren Rechten verletzt ist.
2. Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet, der geschlossene Vertrag war danach gem. § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB für unwirksam zu erklären. Der Antragsgegner hat den Auftrag unter Verstoß gegen § 134 Abs. 1 GWB vergeben.
a. Die Antragstellerin rügt unter anderem, dass kein Vorabinformationsschreiben nach § 134 Abs. 1 GWB versandt wurde. Dies ist der Fall, das Schreiben vom 13.12.2024 genügt nicht den Ansprüchen an ein Vorabinformationsschreiben, überdies wurde die 10-Tagesfrist vor Zuschlagserteilung nicht eingehalten, da die Antragstellerin an diesem Tag über den bereits vorher am selben Tag erteilten Zuschlag informiert wurde.
b. Der bloße Verstoß gegen § 134 GWB stellt an sich noch keinen Grund für die Aufhebung der Zuschlagsentscheidung dar, der Antragstellerin muss auch darüber hinaus ein Schaden entstanden sein. Dies ist nach vorläufiger Auffassung in mehreren Punkten der Fall.
Die Angebotswertung wurde fehlerhaft durchgeführt, die Beigeladene hat kein Hauptangebot, sondern lediglich ein Nebenangebot abgegeben. Die Abgabe und Wertung von Nebenangeboten waren im vorliegenden Verfahren allerdings unzulässig (siehe dd.). Des Weiteren haben rechtswidrige Verhandlungen über das Angebot der Beigeladenen stattgefunden, die das Angebot erst zuschlagsfähig gemacht haben (siehe aa.). Die Beigeladene hätte dementsprechend nicht den Zuschlag erhalten dürfen. Der Antragsgegner hat ebenfalls gegen die Regelungen zum Einsatz elektronischer Mittel nach §§ 10, 11 VgV im Vergabeverfahren verstoßen (siehe bb). Damit ist der Antragstellerin neben dem Verstoß gegen die Vorschrift des § 134 GWB auch durch weitere Verstöße gegen Vergabevorschriften Vergabeverfahren ein Schaden entstanden.
aa. Das Angebot der Beigeladenen hätte nicht gewertet werden dürfen, da es ausweislich des
Nachforderungsschreibens wesentliche Preisbestandteile nicht enthielt, die Vorgaben des Leistungsverzeichnisses nicht einhielt und entgegen § 15 Abs. 5 S. 2 VgV deshalb Nachverhandlungen stattgefunden haben, die zum Zuschlag auf ein neues Angebot, nämlich in der Version vom 09.12.2024, geführt haben. Nach § 15 Abs. 5 VgV dürfen Angebote nur so gewertet werden, wie sie vorgelegt wurden (OLG München, Beschluss vom 02.09.2010 - Verg 17/10; OLG Koblenz, Beschluss vom 15.7.2008 - 1 Verg 2/08; Beck VergabeR/Dörn VgV § 15 Rn. 40; Ziekow/Völlink/Steck VgV § 15 Rn. 39). Durch die Anforderung der Änderung der Autonomiezeit der USV sowie der deshalb notwendigen Anpassung des Preises des Angebots hat der Antragsgegner gegen das Verhandlungsverbot verstoßen. Ein Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen hätte nicht erfolgen dürfen.
bb. Der Antragstellerin ist auch durch den Verstoß des Antragsgegners gegen die Vorschriften der §§ 9 ff. VgV ein Schaden entstanden.
Entgegen dieser Vorgaben wurde die Angebotsabgabe per E-Mail durchgeführt, dies verstößt gegen § 10 Abs. 1 VgV in allen Punkten. Danach müssen insbesondere elektronische Mittel zur Angebotsabgabe nach Nr. 2 so gestaltet sein, dass gewährleistet ist, dass eine Öffnung der Angebote vor Ablauf der Angebotsfrist nicht möglich ist. Dies ist bei einer Angebotsabgabe per E-Mail nicht möglich, so ist nicht gewährleistet, dass die Angebote nicht vor dem Ende der Angebotsfrist geöffnet werden können. Auch eventuell getroffene, hier nicht dokumentierte, organisatorische Maßnahmen genügen der Vorgabe nicht.
Des Weiteren verstößt diese Art der Kommunikation per E-Mail gegen § 11 Abs. 2 VgV. Danach müssen elektronische Mittel zum Senden, Empfangen, Weiterleiten und Speichern von Daten gewährleisten, dass diese unversehrt bleiben, dass die Echtheit der Daten gewährleistet bleibt und dass diese vertraulich bleiben. Auch dies ist bei einer Kommunikation per E-Mail nicht möglich. Dies zeigt sich vorliegend beispielsweise auch darin, dass in der Vergabeakte weder sämtliche Bieterfragen erkennbar sind, noch dass diese in nachvollziehbarer Anordnung vorliegen. Die Vorgaben der §§ 10 und 11 VgV sollen namentlich sicherstellen, dass das Prinzip der Gleichbehandlung gewahrt bleibt. Die Einhaltung der Vorschriften der §§ 9 ff. VgV ist mit einer Kommunikation und Angebotseinreichung per E-Mail nicht möglich. Darin liegt auch ein Schaden für die Antragstellerin in Form einer Verschlechterung der Zuschlagschancen, da so nicht ausgeschlossen werden kann, dass Konkurrenten Kenntnis vom Inhalt des Angebots der Antragstellerin erhalten und ihr Angebot daraufhin anpassen können.
cc. Der Antragsgegner hätte entgegen seiner Annahme keine Nebenangebote annehmen und den Zuschlag auf diese erteilen dürfen (EuGH, Urteil vom 16. 10. 2003 - C-421/01; OLG Koblenz, Beschluss vom 31. Mai 2006 - 1 Verg 3/06; Ziekow/Völlink/Goede VgV § 35 Rn. 26). Er hätte dieses vielmehr ausschließen müssen. Dies folgt aus den nicht vorhandenen Regelungen im Leistungsverzeichnis hinsichtlich der einzuhaltenden Mindestbedingungen bei Nebenangeboten. Nebenangebote dürfen nur dann gem. § 35 Abs. 2 S. 1 VgV überhaupt gefordert und zugelassen werden, wenn diese vorher festgelegte und veröffentlichte Mindestbedingungen einhalten. Hier ist nicht erkennbar, ob und welche Mindestbedingungen für Nebenangebote gelten sollen, ebenso wenig wie der Auftraggeber deren Einhaltung kontrollieren wollte. Dabei ist die Mitteilung des Antragsgegners vom 25.11.2024, dass auch "vom LV losgelöste Nebenangebote" zulässig sein sollen, ebenfalls ein Verstoß, hier sowohl gegen den Grundsatz der vollständigen Leistungsbeschreibung als auch gegen den Grundsatz der Transparenz. Denn dies ermöglicht die Abweichung von sämtlichen Teilen der Leistungsbeschreibung, so dass im Extremfall nicht einmal mehr vergleichbare Angebote vorliegen würden.
dd. Ungeachtet der unzulässigen Einreichung als Nebenangebot hätte der Antragsgegner das Angebot der Beigeladenen auch nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV ausschließen müssen, da es nicht den Anforderungen an die abzugebenden Angebote hinsichtlich der Autonomiezeit der USV entsprechend der Anforderung aus der Antwort auf die Bieterfrage vom 14.11. entsprach. Die Veränderung der Anforderung per Bieterfrage war auch zulässig, insbesondere bestehen trotz der unzulässigen Art der Kommunikation weder Anzeichen dafür noch wurde dies vorgetragen, dass die Beigeladene keine Kenntnis der geänderten Anforderung hatte. Die Nachforderung des geänderten Angebots war sowohl nach § 15 Abs. 5 S. 2 VgV als auch nach § 56 Abs. 3 VgV unzulässig. Das Angebot der Beigeladenen entsprach erst nach der Einreichung des neuen Angebots vom 09.12.2024 den Anforderungen der Leistungsbeschreibung. Das Angebot hätte demnach zwingend ausgeschlossen werden müssen.
ee. Die Nichtbeantwortung von Bieterfragen der Antragstellerin war rechtswidrig und hat die Antragstellerin in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Zu diesen Rechten gehört unter anderem der Grundsatz der Gleichbehandlung und der Transparenz. Mit beiden Grundsätzen ist es nicht vereinbar, wenn einerseits bestimmte Bieterfragen beantwortet werden und andere, wie die der Antragstellerin vom 21.11.2024, nicht. Daran vermag, anders als vom Antragsgegner angenommen, auch die nicht angemahnte Nichtbeantwortung der Fragen und auch nicht die Angebotsabgabe ohne weitere Rüge etwas zu ändern. Es besteht keine Pflicht zur Erinnerung an die Beantwortung von Bieterfragen. Zwar besteht für den Bereich der VgV, anders als bei § 12a EU VOB/A, keine Pflicht zur Beantwortung von Bieterfragen, diese wird jedoch allgemein angenommen und erwächst jedenfalls dann aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn Bieterfragen eines Bieters von der Vergabestelle beantwortet werden.
Daraus ergibt sich für die Antragstellerin auch ein Schaden, da nach § 35 Abs. 2 VgV die Art und Weise der Einreichung von Nebenangeboten angegeben werden muss. Die Kennzeichnung als Nebenangebot ist hingegen nicht möglich, wenn der Antragsgegner nicht mitteilt, wie das Nebenangebot zu kennzeichnen ist. Die Antragstellerin hat auch angegeben, dass dies sie davon abgehalten habe, ein Nebenangebot einzureichen, das möglicherweise den Zuschlag hätte erhalten müssen. Dadurch ist ihr auch ein Schaden entstanden.
III.
Der Antrag auf Akteneinsicht der Antragstellerin war abzulehnen. Der Anspruch auf Akteneinsicht hat im Nachprüfungsverfahren eine rein dienende, zum zulässigen Verfahrensgegenstand akzessorische Funktion (vergl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. April 2022, VIIVerg 25/21; Beschluss vom 20. Dezember 2019, VII-Verg 35/19). Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen dieser Amtsermittlung auch Umstände berücksichtigt werden können, deren Offenlegung mit Rücksicht auf Geheimhaltungsinteressen abzulehnen ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. April 2022, VII-Verg 25/21 unter Verweis auf BGH, Beschluss vom 31. Januar 2017, X ZB 10/16). Daraus ergibt sich für die Akteneinsicht der Antragstellerin, dass ihr sämtliche für die Verfolgung ihrer Rechtsposition relevante Tatsachen und Akteninhalte bereits bekannt waren, soweit diese nicht wie das Angebot der Beigeladenen der Geheimhaltung als Betriebs- und Geschäftsgeheimnis gem. 165 Abs. 2 GWB von der Akteneinsicht ausgeschlossen sind. Letzteres gilt für das Angebot und die Nachforderung des Antragsgegners bei der Beigeladenen sowie deren verändertes Angebot vom 09.12.2024. Dies hindert allerdings nicht die Berücksichtigung der damit im Zusammenhang stehenden Vergaberechtsverstöße im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens im Rahmen der Amtsermittlung zugunsten der Antragstellerin.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
Der Antragsgegner und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens - an sich - gesamtschuldnerisch zu tragen. Nach § 182 Abs. 3 S. 1 GWB hat ein Beteiligter die Kosten zu tragen, soweit er im Verfahren unterliegt. Mehrere Kostenschuldner haften als Gesamtschuldner, § 182 Abs. 3 S. 2 GWB.
Die Festsetzung der Verfahrensgebühr beruht auf § 182 Abs. 2 GWB und entspricht dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer. Die Vergabekammer zieht als Ausgangspunkt insofern die auftragswertorientierte Gebührentabelle der Vergabekammern des Bundes (derzeit abrufbar unter https://www.bundeskartellamt.de/DE/Vergaberecht/Materialien/Materialien_node.html) heran. Dabei legt die Kammer den Bruttoangebotspreis der Antragstellerin zugrunde, der den Wert des Auftrags repräsentiert. Unter Beachtung des personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer für das hiesige Nachprüfungsverfahren, welches trotz der ausführlichen Schriftsätze der Beteiligten und der mündlichen Verhandlung gerade noch durchschnittlich umfangreich war, ergibt sich eine Verfahrensgebühr in Höhe von ... EUR.
Der Antragsgegner ist gemäß § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 2 VwKostG allerdings von der Zahlung der Gebühren befreit. Im Ergebnis wird daher nur die Beigeladene zur Entrichtung der Gebühren herangezogen. Bei einer derartigen sogenannten gestörten Gesamtschuld ist nach allgemeiner, sich nur in Details unterscheidender Rechtsprechung und Literatur, ein Ausgleich durch eine Beschränkung der Gebührenschuld für die verbliebenen Gebührenschuldner vorzunehmen (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.10.2015 - Verg 35/15; Beschl. v. 14.09.2009 - Verg 20/09; VK Rheinland, Beschluss vom 28.05.2019 - VK K 55 / 17 L; VK Westfalen, Beschluss vom 07.04.2017 - VK 1 - 07/17; Glahs, in: Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, 4. Aufl. 2018, § 182 GWB, Rn. 18). Die Kammer kürzt daher die an sich angemessene Gebühr um den Betrag, der dem internen Haftungsanteil des Antragsgegners von 1.600,00 EUR entspricht (vgl. Summa, in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, Stand: 24.11.2020, § 182 GWB, Rn. 67).
Nach § 182 Abs. 4 S. 1 GWB haben der Antragsgegner und die Beigeladene die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen. Anders als für die Kosten der Vergabekammer nach § 182 Abs. 3 S. 2 GWB ordnet § 182 Abs. 4 S. 1 GWB insoweit keine gesamtschuldnerische Haftung an, sodass die Beteiligten entsprechend ihres Anteils am Unterliegen heranzuziehen sind (vgl. schon BGH, Beschluss vom 26.09.2006 - X ZB 14/06). Da sich der Antragsgegner und die Beigeladene mit identischen Rechtsschutzzielen und im Kern mit gleicher Begründung gegen den Nachprüfungsantrag gewandt haben, haben sie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin jeweils zur Hälfte zu tragen. Ihre eigenen Aufwendungen tragen der Antragsgegner und die Beigeladene jeweils selbst. Anhaltspunkte für die Notwendigkeit eines Ausgleichs unter ihnen sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Auf den Antrag der Antragstellerin stellt die Vergabekammer nach § 182 Abs. 4 S. 4 GWB
i.V.m. § 80 Abs. 2, 3 Satz 2 VwVfG die Notwendigkeit der Hinzuziehung ihrer Verfahrensbevollmächtigten fest. Ob die Hinzuziehung eines anwaltlichen Vertreters im Verfahren vor der Vergabekammer notwendig ist, kann nicht schematisch, sondern stets nur auf der Grundlage einer differenzierenden Betrachtung des Einzelfalles entschieden werden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26.09.2006 - X ZB 14/06; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 30.03.2010 - 11 Verg 3/10). Entscheidend ist dabei, ob die Antragstellerin unter den konkreten Umständen des Falls selbst in der Lage gewesen wäre, auf Grund der bekannten oder erkennbaren Tatsachen den Sachverhalt zu erfassen, hieraus die für eine sinnvolle Rechtsverfolgung nötigen Schlüsse zu ziehen und entsprechend gegenüber der Vergabekammer vorzutragen (vgl. schon VK Berlin, Beschluss vom 26.08.2014 - VK - B 1 - 10/14 m.w.N.). Danach ist die Hinzuziehung vorliegend notwendig gewesen. Vorliegend geht es um Mängel des Vergabeverfahrens in nahezu allen Verfahrensschritten und deren potentielle Auswirkungen auf eine Unwirksamkeitsfeststellung in Kombination mit bisher wenig behandelten Fristfragen bei der Einleitung des Nachprüfungsverfahrens. Es kann von der Antragstellerin nicht erwartet werden, derartig komplexe Fragen des Vergaberechts, bei dem es sich noch dazu um eine Spezialmaterie handelt (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 12.11.2020 - 54 Verg 2/20), tatsächlich und rechtlich ohne Rechtsbeistand zu lösen und vor der Kammer entsprechend vorzutragen.
(Rechtsmittelbelehrung)
Vorzeitige Zuschlagserteilung nur im Ausnahmefall!
Vorzeitige Zuschlagserteilung nur im Ausnahmefall!
Melden Sie sich jetzt an unter www.vpr-online.de, um sämtliche Entscheidungen im Volltext lesen zu können.
vpr-online ist DIE Datenbank für öffentliche Auftraggeber und Bieter sowie für alle Berater auf den Gebieten des Vergaberechts.
Mit vpr-online haben Sie außerdem jederzeit und überall Zugriff auf über 5.800 VPR-Beiträge nach dem 1-Seiten-Prinzip, über 12.114 Entscheidungen im Volltext, Arbeitshilfen, Materialien und vieles mehr.
VK Thüringen
Beschluss
vom 13.08.2024
5090-250-4003/476
Eine Gestattung der vorzeitigen Zuschlagserteilung darf nur in besonderen Ausnahmefällen erfolgen, in denen ein dringendes Interesse des Auftraggebers und der Allgemeinheit an einer sofortigen Erteilung des Zuschlags besteht, welches deutlich das Interesse an einer ordnungsgemäßen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens übersteigt (hier verneint).
VK Thüringen, Beschluss vom 13.08.2024 - 5090-250-4003/476
Tenor:
1. Der Antrag der Auftraggeberin auf vorzeitige Gestattung der Erteilung des Zuschlags wird abgelehnt.
2. Die Kostenentscheidung bleibt dem Beschluss in der Hauptsache vorbehalten.
Gründe
I.
Mit Auftragsbekanntmachung vom xx.04.2024 (Datum der Veröffentlichung) schrieb die AG Dienstleistungen im Zusammenhang mit Siedlungs- und anderen Abfällen - Lieferung und Aufstellung von Abfallsammelbehältern im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union im offenen Verfahren europaweit aus.
Die AG wurde durch den Landkreis xxxxx mit Kreistagsbeschluss vom 21.10.2021 mit der Sammlung und Verwertung des im Landkreis anfallenden Bioabfalls beauftragt. Für die Umsetzung bzw. Einführung der haushaltsnahen Getrenntsammlung von Bioabfällen wurde vorliegend die Beschaffung und Verteilung von (Bio-)Abfallsammelbehältern ausgeschrieben.
Nach Fassung des Kreistagsbeschlusses hat der Landkreis xxxxx Informationsschreiben an die Einwohner des Landkreises versandt und in einem Informationsblatt die Gründe für die flächendeckende Einführung der Biotonne zum 01.01.2025 erläutert. Des Weiteren wurden die Einwohner darüber in Kenntnis gesetzt, dass - abgesehen von einer vollständigen Eigenverwertung - die Nutzung der Biotonne für alle zu Wohnzwecken genutzten Grundstücke zur Erfassung der häuslichen Bioabfälle verpflichtend werde. Zur Vorbereitung einer Ausschreibung wurden die Einwohner mit Schreiben vom 07.11.2022 aufgefordert, mittels Formblatt bis zum 31.01.2023 mitzuteilen, ob sie weiterhin eine vollständige Eigenverwertung beabsichtigen. Ohne Rücksendung des Formblattes werde automatisch die Stellung einer 80 Liter Biotonne ab Herbst 2024 veranlasst.
Im Jahr 2023 hat die AG ein europaweites Vergabeverfahren für die Leistung der Verwertung von Bio- und Grünabfall aus dem Landkreis xxxxx durchgeführt. Der Zuschlag wurde bereits auf das Angebot eines Unternehmens erteilt, welches zum 01.01.2025 die vertragsgegenständlichen Verwertungsleistungen erbringen solle.
Die zu vergebenden Leistungen der vorliegenden europaweiten Ausschreibung waren in zwei Lose gegliedert:
Los 1 - Lieferung von Abfallbehältern (inkl. Einbau der durch den Auftraggeber gestellten Transponder) sowie Nachlieferung und Ersatzteillieferung im Kreisgebiet sowie
Los 2 - Verteilung/Aufstellung von (Bio-)Abfallsammelbehältern im Landkreis xxxxx (Erstgestellung, inkl. Zuordnung der Transponder zum Erfassungssystem des Auftraggebers).
Streitgegenständlich ist vorliegend ausschließlich Los 1.
Unter Nr. 5.1.3 der europaweiten Auftragsbekanntmachung wurde für die Leistungserbringung als geschätzte Dauer der 20.08.2024 und eine Laufzeit von 4 Jahren angegeben. Für Los 2 wurde als geschätzte Dauer unter 5.1.3 der europaweiten Auftragsbekanntmachung ein Zeitraum vom 07.10.2024 bis 13.12.2024 angegeben. Gemäß Nr. 1 der Leistungsbeschreibung war ausgeführt, dass die Lieferung der Abfallbehälter (Los 1) bis Anfang Oktober 2024 (40. KW) zu erfolgen habe. Gemäß Nr. 3.2.3 der Leistungsbeschreibung war gefordert, dass im Vorfeld der Behälterlieferung für die Erstgestellung, die vom AG gelieferten Transponder der Fa. xxxxx in die zu liefernden Behälter zu verbauen seien.
In dem als "Eckpunktepapier zur Klärung wesentlicher Inhalte und Rahmenbedingungen zur Erarbeitung der Vergabeunterlagen für die europaweite Ausschreibung zur Lieferung und Aufstellung von Abfallbehältern einschl. Transpondern zur Behälteridentifikation im Landkreis xxxxx " der xxxxx Unternehmensberatung xxxxxx vom 08.03.2024 findet sich unter Nr. 4 "Termine, Fristen" der folgende Terminplan auf Basis der zu beachtenden Fristen und des Umfangs der Ausschreibung:
"Beratung Vergabevorschlag bedingter Zuschlag, Information der Bieter (Absageschreiben): Anfang Juli 2024
Endgültiger Zuschlag: Ende Juli 2024 (gemäß § 134 GWB 10 Tage nach elektronischem Versand der Absageschreiben, sofern kein Nachprüfungsantrag gestellt wird)
Zuschlags- und Bindefrist der Angebote: 20.08.2024
Leistungsbeginn: Oktober 2024
(Die Bieter können bereits im Angebot, für den Fall von Nachprüfungsverfahren einer
Verschiebung der Zuschlags- und Bindefrist sowie des Leistungsbeginns zuzustimmen.)"
Alleiniges Zuschlagskriterium war gemäß Nr. 5.1.10 der Auftragsbekanntmachung der Preis mit dem Hinweis, dass der Zuschlag pro Los auf das Angebot mit dem niedrigsten Preis erteilt werde.
Unter Nr. 5.1.9 der Auftragsbekanntmachung hat die AG hinsichtlich der Eignungskriterien u.a. folgende Festlegungen getroffen:
"2) Auf Verlangen der Vergabestelle sind innerhalb einer gesetzten Frist folgende Unterlagen nachzureichen:
- Benennung der Referenzen (mindestens mit Angabe des Auftraggebers, des Auftragnehmers, der vertraglichen Bindung, des Leistungszeitraums und des Leistungsgegenstands/-umfangs),
- Verleihungsurkunde der GGAWB oder gleichwertiges Zertifikat zur Einhaltung der Güte- und Prüfbestimmungen der RAL-GZ 951/1 für Abfall- und Wertstoffbehälter (Los 1), - Umweltzeichen/Auszeichnung "Blauer Engel" (Los 1)"
In Nr. 3.2.2 der Leistungsbeschreibung war gefordert, dass die Behälter den Güte- und Prüfbestimmungen der RAL-GZ 951/1 für Abfallbehälter aus Kunststoff zu entsprechen haben. Die Einhaltung der technischen Anforderungen und der neutralen Produktionsüberwachung müsse durch die entsprechende Verleihungsurkunde der GGAWB oder ein gleichwertiges Zertifikat nachgewiesen werden können.
Frist für den Eingang der Angebote war gemäß Nr. 5.1.12 der Bekanntmachung der 24.05.2024, 12:00 Uhr.
Die AST und die Zuschlagsaspirantin gaben jeweils ein Angebot zu Los 1 ab.
Die Zuschlags- und Bindefrist endet am 20.08.2024, 24:00 Uhr. Die AST hat einer Verlängerung der Bindefrist zugestimmt, die Zuschlagsaspirantin nicht.
Die AST reichte mit ihrem Angebot die Verleihungsurkunde des GGAWB (Gütegemeinschaft) Abfall- und Wertstoffbehälter e.V. hinsichtlich der RAL-GZ 951/1 sowie Zertifikate der [CGmbH] hinsichtlich der Einhaltung der DIN EN 840 ein.
Die Zuschlagsaspirantin reichte mit ihrem Angebot Zertifikate des TÜV Rheinland hinsichtlich der Prüfkriterien der DIN EN 840 und der RAL GZ ein.
Laut "Bericht zum Vergabeverfahren und zur Auswertung der Angebote der europaweiten Ausschreibung (offenes Verfahren) der Lieferung und Ausstellung von Abfallsammelbehältern für den Landkreis xxxxx " vom 19.06.2024 führte die xxxxx Unternehmensberatung xxxxx die Auswertung der Angebote durch.
Mit Vorinformationsschreiben vom 20.06.2024, versendet um 23.48 Uhr, teilte die AG der AST mit, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden solle. Es werde beabsichtigt, den Zuschlag auf das Angebot der Zuschlagsaspirantin zu erteilen. Der Zuschlag könne auf ihr Angebot nicht erteilt werden, da dieses gemäß den Zuschlagskriterien nicht das Angebot mit dem niedrigsten Preis darstelle. Es sei beabsichtigt, den Vertrag mit dem für den Zuschlag vorgesehenen Bieter frühestens am 01.07.2024 abzuschließen.
Am 27.06.2024 rügte die AST mit anwaltlichem Schreiben die beabsichtigte Zuschlagserteilung auf das Angebot der Zuschlagsaspirantin und forderte zu einer entsprechenden Abhilfe auf. Sie rügte die Nichteinhaltung der Wartefrist von zehn Tagen gemäß § 134 Abs. 1 GWB aufgrund des Vorabinformationsschreibens vom 21.06.2024 und der beabsichtigten Zuschlagserteilung vom 01.07.2024. Das Vorinformationsschreiben sei zudem fehlerhaft, da keine hinreichende Information zu den Gründen des Unterliegens angegeben worden sei. Ferner sei das Angebot der Zuschlagsaspirantin nicht zuschlagsfähig und zwingend aus dem Vergabeverfahren auszuschließen, da es Änderungen an den Vergabeunterlagen gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV enthalten habe. So erfülle das Angebot der Zuschlagsaspirantin nicht die in Nr. 3.2.2 enthaltenen Anforderungen zur Beschaffenheit, nämlich, dass die Behälter den Güte- und Prüfbestimmungen der RAL-GZ 951/1 für Abfallbehälter aus Kunststoff zu entsprechen haben und die Einhaltung der Technischen Anforderungen und der neutralen Produktionsüberwachung durch die entsprechende Verleihungsurkunde der GGAWB oder ein gleichwertiges Zertifikat nachgewiesen werden müsse. Die Zuschlagsaspirantin könne diese Anforderung unmöglich einhalten, da sie weder über eine Verleihungsurkunde der GGAWB noch über ein gleichwertiges Zertifikat verfüge. Diese Anforderung könnten ohnehin nur sehr wenige Marktteilnehmer erfüllen. Sofern diese bereits nicht von der Zuschlagsaspirantin abgefordert worden sein sollte, werde insoweit die fehlerhafte Ermessensausübung wegen offenkundig unvollständig ermitteltem Sachverhalt gerügt.
Am 28.06.2024 bat die AG die Zuschlagsaspirantin um Aufklärung und Stellungnahme, inwieweit und in welchem Umfang eine Prüfung der Güte- und Prüfbestimmungen der RAL GZ 951/1 erfolgte und welche Prüfinhalte hierbei vom TÜV Rheinland zu Grunde gelegt worden seien sowie inwieweit die Prüfung durch den TÜV als gleichwertig anzusehen sei. Mit Schreiben vom selben Tag nahm die Zuschlagsaspirantin hierzu dahingehend Stellung, dass dem TÜV neben den Vorgaben der EN 840 auch die Güte- und Prüfbestimmungen der RAL GZ 951/1 vorgelegen hätten. Es seien alle Vorgaben seitens der Güte- und Prüfbestimmungen für fahrbare Abfall- und Wertstoffbehälter erfüllt. Der einzige Unterschied zur Verleihungsurkunde der GGAWB liege darin, dass diese nur Mitgliedern des privaten Vereins "Gütegemeinschaft Abfall- und Wertstoffbehälter e.V. xxxxx " zur Verfügung stehe. Die Zuschlagsaspirantin sei jedoch kein Mitglied des GGAWB.
Die nunmehr anwaltlich vertretene AG wies mit Schreiben vom 01.07.2024 die Rügen der AST zurück. Sie führte aus, dass der Zuschlag am 01.07.2024 hätte erteilt werden können, da die Absendung des Vorabinformationsschreibens die nach § 134 Abs. 2 GWB zu beachtende Frist von zehn Kalendertagen, nach deren Ablauf der Zuschlag erteilt werden dürfe, in Gang gesetzt habe. Die Frist habe am 21.06.2024 zu laufen begonnen und habe am Sonntag, dem 30.06.2024, geendet. Zudem sei die Mitteilung im Sinne des § 134 GWB ausreichend. Denn es sei ausreichend Bezug auf das einzige Zuschlagskriterium der Ausschreibung, den Preis, genommen worden und es liege damit auch keine floskelhafte Formulierung vor. Ferner liege kein Grund für einen Ausschluss des Angebots der Zuschlagsaspirantin vor. Das zu bezuschlagende Angebot habe sämtliche geforderten Unterlagen enthalten. Diese seien durch die AG vollumfänglich geprüft und aufgeklärt worden. Insbesondere lägen alle erforderlichen Erklärungen und Nachweise vor. Anhaltspunkte für eine Änderung an den Vergabeunterlagen hätten nicht vorgelegen. Aufgrund des Vertraulichkeitsgrundsatzes nach § 5 VgV könne die AG keine weiteren Angaben zu dem zu bezuschlagenden Angebot tätigen.
Mit Schreiben vom 03.07.2024 hat die AST einen Antrag auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens bei der Vergabekammer gestellt. Sie hat im Einzelnen beantragt:
1. die Antragsgegnerin zu verpflichten, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in einen in das Ermessen der Vergabekammer gestellten Zeitpunkt zurückzuversetzen und unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen;
2. der Antragstellerin gemäß § 165 Abs. 1 GWB Akteneinsicht zu gewähren;
3. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin gemäß § 182 Abs. 4 GWB für notwendig zu erklären;
4. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung der Antragstellerin aufzuerlegen.
Der Nachprüfungsantrag der AST sei zulässig und begründet. Die AST werde durch die beabsichtigte Zuschlagserteilung auf das Angebot der Zuschlagsaspirantin in ihren Rechten verletzt. Da ihr der Rang des Angebots der AST nicht mitgeteilt worden sei, gehe sie davon aus, dass sie nach aktueller Wertung auf Rang zwei liege und ihr Angebot das wirtschaftlichste darstelle, sobald das Angebot der Zuschlagsaspirantin in Abhilfe des Vergabeverstoßes aus dem Verfahren ausgeschlossen würde. Im Übrigen wiederholte die AST im Wesentlichen ihr Vorbringen aus ihrem Rügeschreiben vom 27.06.2024. Das Vorabinformationsschreiben sei fehlerhaft aufgrund der Nichteinhaltung der Wartefrist von zehn Tagen und enthalte keine hinreichenden Informationen zu den Gründen des Unterliegens. Zudem hätte das Angebot der Zuschlagsaspirantin zwingend ausgeschlossen werden müssen, da es den Mindestanforderungen an die Beschaffenheit gemäß Nr. 3.2.2 der Leistungsbeschreibung nicht gerecht werde.
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag am 04.07.2024 der AG übermittelt.
Die AG hat der Vergabekammer am 09.07.2024 die Vergabeakte übergeben.
Die AST hat auf Anforderung der Vergabekammer am 10.07.2024 für das Nachprüfungsverfahren einen Kostenvorschuss in Höhe von xxxxx Euro entrichtet.
Mit Schriftsatz vom 10.07.2024 nahm die AG zum Nachprüfungsantrag der AST Stellung und beantragte,
1. die Anträge werden abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten (Gebühren und Auslagen) des Verfahrens.
3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragsgegnerin wird für notwendig erklärt.
Im Wesentlichen habe die AST den zeitlichen Ablauf zutreffend wiedergegeben. Einige Aspekte bedürften jedoch der Klarstellung. Gemäß Ziffer 5.1.10 der Auftragsbekanntmachung sei einziges Zuschlagskriterium der Preis. Die Leistungsbeschreibung beinhalte in Ziffer 4.1 keine inhaltliche Ergänzung beziehungsweise Erweiterung des Zuschlagskriteriums. Nicht nachvollziehbar sei in diesem Zusammenhang die Herleitung, es gäbe 15 Preiskriterien. Ziffer 4.1 erläutere lediglich, dass bei der Kalkulation des Angebotspreises zu beachtende Mengengerüst. Im Rahmen des Informationsschreibens habe die AG der AST nicht mitgeteilt, es sei nicht das wirtschaftlichste. Konkret sei in Absatz 3 des Vorabinformationsschreibens ausgeführt worden: "Auf Ihr Angebot kann der Zuschlag deshalb nicht erteilt werden, da dieses gemäß den Zuschlagskriterien nicht das Angebot mit dem niedrigsten Preis darstellt."
Das Informationsschreiben sei bereits am 20.06.2024 über das Vergabeportal an die Bieter übersandt worden. Im Übrigen wiederholte und vertiefte die AG ihren Vortrag aus dem Nichtabhilfeschreiben vom 01.07.2024. Die AG sei aufgrund der Angaben der Zuschlagsaspirantin beanstandungsfrei zu der Einschätzung gelangt, dass die angebotenen Behälter den technischen Anforderungen und der neutralen Produktionsüberwachung gleich den Güte- und Prüfbestimmungen der RAL GZ 951/1 entsprechen. Als Nachweise habe sie auf die dem Angebot beigefügten Zertifikate des TÜV Rheinland vom 21.04.2023 und 24.04.2023 verwiesen. Anhaltspunkte, die Zweifel an dieser Aussage hätten wecken können, hätten nicht vorgelegen. Allein die Veröffentlichung auf der Website der Zuschlagsaspirantin, dass die Behälter den Kriterien nach DIN EN 840 als auch RAL GZ 951/1 "entsprächen", reichten noch nicht aus, um ernsthafte Zweifel zu begründen. Entsprechende Nachweise über die Einhaltung der Kriterien seien nur auf Verlangen vorzulegen gewesen. Entgegen der Auffassung der AST habe keine Nachverhandlung stattgefunden. Nach dem Erhalt der Rüge vom 27.06.2024 habe die AG eine Aufklärung gegenüber der Zuschlagsaspirantin i.S.v. § 15 Abs. 5 VgV durchgeführt, inwieweit und in welchem Umfang eine Prüfung der Güte- und Prüfbestimmungen der RAL GZ 951/1 erfolge und welche Prüfinhalte hierbei vom TÜV Rheinland zu Grunde gelegt worden seien sowie inwieweit die Prüfung durch den TÜV als gleichwertig anzusehen sei. Ein Ausschlussgrund für das Angebot habe nicht vorgelegen, da es die Anforderungen aus den Vergabeunterlagen, insbesondere Nr. 3.2.2 der Leistungsbeschreibung, erfülle.
Mit Schreiben vom 26.07.2024 hat die AG beantragt, die vorzeitige Erteilung des Zuschlags an die Zuschlagsaspirantin nach Ablauf von zwei Wochen seit Bekanntgabe dieser Entscheidung gemäß § 169 Abs. 2 S. 1 GWB zu gestatten. Der Eilantrag sei zulässig und begründet. Eine Interessenabwägung ergebe, dass die Interessen der AG und der Allgemeinheit an einer schnellen und zeitnahen Zuschlagserteilung das Interesse der AST am Erhalt ihrer Rechte auf Primärrechtsschutz aus § 97 Abs. 6 GWB überwögen. Eine weitere Verzögerung des Zuschlages hätte zur Folge, dass die Einführung der flächendeckenden Bioabfallsammlung mit Anschluss- und Benutzungszwang im Landkreis xxxxx nicht zum 01.01.2025 erfolgen könne. Als Leistungszeitraum für die Lieferung der Abfallbehälter sei gemäß Nr. 2.3 der Leistungsbeschreibung die Zeit bis Anfang Oktober (KW 40) vorgesehen. Nach Lieferung der Abfallbehälter schließe sich die Verteilung/Aufstellung der Behälter durch den erfolgreichen Bieter auf das Los 2 an. Hierfür sei ein Leistungszeitraum bis Mitte Dezember 2024 vorgesehen. Die Zuschlags- und Bindefrist der Angebote ende am Dienstag, dem 20.08.2024. Hierbei habe die AG berücksichtigt, dass dem erfolgreichen Bieter nach Erteilung des Zuschlags mindestens ein Zeitraum von ca. sechs Wochen zur Verfügung stehen müsse, um die Leistung fristgerecht erbringen zu können. Aufgrund des eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens sei die AST jedoch gehindert, den Zuschlag bis spätestens Dienstag, dem 20.08.2024, zu erteilen. Der Nachprüfungsantrag der AST sei am 03.07.2024 bei der Vergabekammer eingegangen, so dass die fünfwöchige Entscheidungsfrist des § 167 Abs. 1 S. 1 GWB am 07.08.2024 ende. Mit einer Entscheidung in dem Nachprüfungsverfahren innerhalb der fünfwöchigen Entscheidungsfrist sei vorliegend jedoch nicht zu rechnen, da sich die Vergabekammer aufgrund erheblicher Überlastung und Personalmangels gezwungen sehe, die Entscheidungsfrist in Nachprüfungsverfahren zum Teil mehrmals um mehrere Wochen zu verlängern. Es bestehe daher die ernsthafte Gefahr, dass die Erteilung des Zuschlags nicht nur nach Ablauf der Bindefrist, sondern auch nach Ablauf des voraussichtlichen Termins für den Leistungsbeginn nicht [Anmerkung der Vergabekammer] möglich werde. Unterstelle man eine Entscheidung der Vergabekammer bis zum Montag, dem 05.08.2024, wäre daher die Erteilung des Zuschlags innerhalb der Bindefrist möglich und die Leistungszeiträume könnten eingehalten werden. Werde hingegen der Antrag auf vorzeitige Gestattung des Zuschlags abgelehnt, könne dieser gemäß §§ 169 Abs. 1, 172 Abs. 1 GWB frühestens erst zwei Wochen nach Zustellung der Hauptsacheentscheidung im Nachprüfungsverfahren erteilt werden. Berücksichtige man mithin die derzeit nicht verlässlich zu prognostizierende Verfahrensdauer sei jedoch weder die Einhaltung der Bindefrist noch der Leistungszeiträume zu erwarten. Der Abschluss der Vergabe für die Lieferung und Aufstellung der Bioabfallbehälter sei eine zwingend notwendige Voraussetzung für die Einführung und Durchführung der flächendeckenden Bioabfallsammlung ab dem 01.01.2025. Gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 1 KrWG bestehe die Verpflichtung öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger, Bioabfälle getrennt zu sammeln. Durch das Thüringer Landesverwaltungsamt sei im Rahmen seiner Zuständigkeit als Aufsichtsbehörde die flächendeckende Einführung der Biotonne gegenüber dem Landkreis xxxxx unter Inaussichtstellen einer Ersatzvornahme bereits angemahnt worden.
Um die rechtzeitige Gestellung der Behälter an den Grundstücken zu gewährleisten, sei die vorherige Beschaffung und Lieferung der Abfallbehälter denknotwendige Voraussetzung. Dabei sei eine Vorlauf- und Lieferzeit von mindestens sechs Wochen ab Zuschlagserteilung unabdingbar. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass in diesem Zeitraum auch der erforderliche Einbau der Transponder durch den Auftragnehmer zu erfolgen habe. Dabei habe die AG bei der Konzeptionierung des Zeitplans berücksichtigt, dass für die Auslieferung der Abfallbehälter ein Zeitraum von ca. acht Wochen zu veranschlagen sei. Weiterhin sei mit Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Verwertungsunternehmen, welches ab 01.01.2025 die Verwertung der Bioabfälle übernehmen solle, zu rechnen. Ferner bedürften die Abfallsatzung und die Abfallgebührensatzung im Hinblick auf die geplante Einführung ab 01.01.2025 einer grundhaften Überarbeitung. Besonders relevant sei die Überarbeitung der Abfallgebührensatzung, der wegen Ablaufs des Kalkulationszeitraums eine neue Abfallgebührenkalkulation zugrunde zu legen sei. Diese Gebührenkalkulation habe bislang, insbesondere wegen der im Jahr 2023/2024 durchgeführten Vergabeverfahren bezüglich der Verwertung von Bioabfällen und nunmehr der Lieferung von Bioabfallbehältern, noch nicht gefertigt werden können. Da es sich bei der öffentlichen Einrichtung "Abfallentsorgung" um eine kostendeckende Einrichtung nach den Bestimmungen des Kommunalabgabengesetzes des Freistaats Thüringen handele, seien in die Gebührenkalkulation auch die Kosten für die Bioabfallsammlung ab dem 01.01.2025 zu berücksichtigen.
Ferner habe der aktuelle Zeitplan aufgrund des Nachprüfungsverfahrens keinerlei zeitlichen Puffer mehr für mögliche Verzögerungen. Die AG habe die Verzögerung nicht selbst herbeigeführt. Sie habe bereits im "Januar" mit der Vorbereitung für eine EU-weite Ausschreibung begonnen. Die Veröffentlichung sei am 16.04.2024 erfolgt. Die Angebote hätten bis 24.05.2024 abgegeben werden müssen, die Informationsschreiben seien am 20.06.2024 versendet worden. Die geplante Zuschlagserteilung sollte ursprünglich zum 01.07.2024 erfolgen, habe sich jedoch wegen der Einwendungen der AST verzögert.
Auch überwiege das Interesse der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens. Aufgrund des dargestellten engen zeitlichen Ablaufplans und den Folgen einer Verzögerung habe die Allgemeinheit ein Interesse an der Sicherung der Funktionsfähigkeit und Aufgabenerfüllung durch die AG im Bereich der Abfallwirtschaft. Die Tatsache, dass der Nachprüfungsantrag der AST offensichtlich keinen Erfolg haben werde, spreche zusätzlich für ein überwiegendes Interesse an einem schnellen Zuschlag.
Die Vergabekammer übersandte der AST den Gestattungsantrag am 30.07.2024 und bat hierzu um Stellungnahme bis zum 02.08.2024, 10:00 Uhr.
Die Vergabekammer hat zuletzt mit Schreiben vom 01.08.2024 die Frist für die Entscheidung in der Sache wegen der Vielzahl der anhängigen Nachprüfungsverfahren um zehn Wochen bis zum 16.10.2024 verlängert.
Mit Schreiben vom 01.08.2024 nahm die AST zur Antragserwiderung der AG vom 10.07.2024 und zum Gestattungsantrag vom 26.07.2024 Stellung und beantragte,
5. den Antrag der Antragsgegnerin auf Vorabgestattung des Zuschlags gem. § 169 Abs. 2 GWB zurückzuweisen.
Sie wies zunächst darauf hin, dass ihr keine Anlagen zur Antragserwiderung der AG vom 10.07.2024 bereitgestellt worden seien und aufgrund der Schwärzungen der Vortrag der AG kaum einlassungsfähig sei. Im Übrigen verwies sie auf die bis dato fehlende Entscheidung über ihren Akteneinsichtsantrag und in diesem Zusammenhang auf ihren Anspruch auf rechtliches Gehör. Hinsichtlich der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags verkenne die AG, dass die Zuschlagserteilung auf Basis eines unzureichenden Vorabinformationsschreibens zur Nichtigkeit(-sfeststellung) des Auftrags führe. Eine ebensolche Zuschlagserteilung wolle die AG mit ihrem Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags erreichen. Im Fall der Feststellung der Nichtigkeit habe die AST eine neue Chance auf den Zuschlag, da ein neues Vergabeverfahren zur Bedarfsdeckung begonnen werden müsse. Schließlich sei es vollkommen fernliegend, die Rüge der AST im Hinblick auf die nicht vorhandene Zertifizierung der Zuschlagsprätendentin als "Rüge ins Blaue hinein" zu betrachten. Im Übrigen wiederholte und vertiefte sie ihr Vorbringen aus dem Nachprüfungsantrag vom 03.07.2024. U.a. sei durch den Wiedereintritt in die Angebotsprüfung, manifestiert durch die Aufklärung bei der Zuschlagsaspirantin, eine erneute Übersendung eines allen Anforderungen des § 134 GWB entsprechenden Vorabinformationsschreibens zwingend erforderlich gewesen. Denn der rügebedingte Wiedereintritt in die Angebotsprüfung durch einen öffentlichen Auftraggeber bei der Zuschlagsaspirantin lasse die Informationspflicht bekanntlich neu entstehen. Weiterhin sei das von der AG gewählte Mittel der Überprüfung nicht geeignet gewesen, eine effektive Verifizierung des Leistungsversprechens zu gewährleisten.
Darüber hinaus sei dem Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags offensichtlich nicht stattzugeben. Mit der Stattgabe würde der Primärrechtsschutz der AST komplett abgeschnitten. Der Nachprüfungsantrag sei offensichtlich begründet. Ferner liege eine hausgemachte Zeitnot der AG vor. Zwischen dem Stichtag der Bedarfsentstehung und der Veröffentlichung des Vergabeverfahrens habe die AG knapp 30 Monate (29 Monate und 26 Tage) verstreichen lassen. Für das Verfahren habe sie mit einer Maximallaufzeit von ca. vier Monaten (vier Monate und vier Tage) inklusive etwaiger Verzögerungen infolge der Durchführung von Vergabeverfahren zwischen Auftragsbekanntmachung und spätester Zuschlagserteilung geplant. Ausgehend vom Datum des Beschlusses des Kreistages habe die AG ca. 26,5 Monate verstreichen lassen, bevor sie mit der Vorbereitung der Bedarfsdeckung begonnen habe. Die AG habe trotz extrem frühzeitiger Klarheit über den Bedarfsfall mehr als zwei Kalenderjahre ungenutzt verstreichen lassen. Auch die weiteren, von der AG vorgetragenen Aspekte rechtfertigten kein besonderes Interesse an der Vorabgestattung der Zuschlagserteilung. So dürften im Fall einer Ersatzvornahme die Interessen der Allgemeinheit im Fall einer verzögerten Zuschlagserteilung nicht bedroht sein. Spätestens am 31.01.2023 habe die AG auch die letzte Information, welche für die Veröffentlichung des hiesigen Vergabeverfahrens benötigt würde, gehabt. Tatsächlich drohe, wenn die Entscheidung in der Hauptsache abgewartet würde, schlicht ein späterer Beginn der getrennten Bio-Abfall-Sammlung. Das sei hinzunehmen, da die Aussonderung der BioAbfälle aus den gesammelten Restmüllbehältern möglich sei. Hierfür käme eine Interimsbeauftragung betreffend die Mülltrennung durch einen Dritten in Betracht. Interimsaufträge seien nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer Vorabgestattung des Zuschlags vorzuziehen.
Das Schreiben der AST vom 01.08.2024 wurde der AG am 08.08.2024 zur Kenntnis gegeben.
Die Vergabekammer nimmt ergänzend Bezug auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer sowie die Vergabeakte der AG, soweit vorgelegt.
II.
Der Eilantrag auf vorzeitige Zuschlagsgestattung ist zulässig, aber unbegründet.
1. Zulässigkeit
Der Antrag der AG auf Gestattung des vorzeitigen Zuschlags gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 GWB ist zulässig.
Im Rahmen der Entscheidung über eine vorzeitige Gestattung des Zuschlags war die Zuschlagsaspirantin, die im Hauptsacheverfahren beizuladen ist, nicht zu hören, da deren Interessen hiervon nicht berührt werden. Der Gesetzgeber hat dieses Verfahren im Interesse der Allgemeinheit an einer sofortigen Erteilung des Zuschlags vorgesehen, um diese Interessen mit dem gesetzlich festgeschriebenen Interesse an der Zuschlagssperre abzuwägen.
Die Interessen der Beigeladenen sind dabei gesetzlich nicht zu berücksichtigen. Auch wenn die Beigeladene die Interessen der Allgemeinheit im Rahmen des § 169 Abs. 2 GWB geltend machen darf, bleiben es lediglich die Interessen der Allgemeinheit und nicht die der Beigeladenen. Dem steht nicht entgegen, dass bei der Abwägung auch die allgemeinen Aussichten der AST im Vergabeverfahren, den Auftrag zu erhalten, zu berücksichtigen sind. Die AST wurde mit Schreiben der Vergabekammer vom 30.07.2024 zum Gestattungsantrag der AG angehört.
Der Nachprüfungsantrag wurde der AG zugestellt und damit ist das gesetzliche Zuschlagsverbot gemäß § 169 Abs. 1 GWB eingetreten.
Der Antrag der AG ist auch fristgerecht (vor Abschluss des Nachprüfungsverfahrens durch Zustellung einer Entscheidung der Vergabekammer) eingelegt worden. Zudem hat die AG für die vorzeitige Gestattung rechtfertigende Umstände vorgetragen.
2. Begründetheit
Der Antrag auf Gestattung des Zuschlags gemäß § 169 Abs. 2 S. 1 GWB ist nicht begründet.
Gemäß § 169 Abs. 2 S. 1 GWB kann die Vergabekammer dem Auftraggeber auf seinen Antrag gestatten, den Zuschlag nach Ablauf von zwei Wochen seit Bekanntgabe dieser Entscheidung zu erteilen, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen sowie des Interesses der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zum Abschluss der Nachprüfung die damit verbundenen Vorteile überwiegen. Bei der Abwägung ist das Interesse der Allgemeinheit an einer wirtschaftlichen Erfüllung der Aufgaben des Auftraggebers zu berücksichtigen. Die Vergabekammer berücksichtigt dabei auch die allgemeinen Aussichten des Antragstellers im Vergabeverfahren den Auftrag zu erhalten. Die Erfolgsaussichten des Nachprüfungsantrages müssen nicht in jeden Fall Gegenstand der Abwägung sein.
Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit des § 169 Abs. 2 S. 1 GWB geschaffen, um den Zuschlag gestatten zu können, "wenn das Interesse am Abschluss des Vertrages so stark ist, dass nicht bis zur Entscheidung (in spätestens fünf Wochen zuzüglich 2 Wochen Rechtsmittelfrist) gewartet werden kann" (BT-Drs. 13-9340, S. 20); "der Vollzug der Vergabe muss (...) außergewöhnlich eilbedürftig sein" (ebenda, S. 50).
Da den Antragstellern durch den Zuschlag der gesetzlich verankerte Primärrechtsschutz genommen und diese auf den Sekundärrechtsschutz verwiesen werden, kann § 169 Abs. 2 S. 1 GWB nur dahingehend verstanden werden, dass grundsätzlich nur in besonderen Ausnahmefällen eine Gestattung des Zuschlags erfolgen darf, wenn also ein dringendes Interesse besteht, welches deutlich das Interesse an einer ordnungsgemäßen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens übersteigt. Damit darf der effektive Primärrechtsschutz des § 97 Abs. 6 GWB nur dann ausnahmsweise durch Gestattung der Erteilung des Zuschlags durchbrochen werden, wenn das Interesse des Auftraggebers und der Allgemeinheit an einer sofortigen Erteilung des Zuschlags das gesetzlich festgeschriebene Interesse an der Zuschlagssperre deutlich überwiegen (vgl. OLG München, Beschl. v. 09.09.2020, Verg 16/10; VK Sachsen, Beschl. v. 23.05.2023, 1/SVK/015-23). Der Auftraggeber hat zudem hinreichend darzutun, ob und inwieweit herausragende Belange des gemeinen Wohls gefährdet würden, wenn das mit der Ausschreibung in Angriff genommene Beschaffungsvorhaben nicht fristgerecht begonnen wird (vgl. OLG Jena, Beschl. v. 24.10.2003, 6 Verg 9/03). Es muss also ein dringendes Bedürfnis für eine sofortige Auftragserteilung bestehen, welches deutlich das Interesse des Antragstellers an einer vorherigen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens übersteigt (VK Sachsen, Beschl. v. 24.10.2018, 1/SVK/039-18G).
Die Entscheidung der Vergabekammer über die Gestattung der Zuschlagserteilung ist eine Ermessensentscheidung auf Grundlage einer summarischen Prüfung. In dieser ist eine Interessensabwägung unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen des Antragstellers durch eine vorzeitige Zuschlagserteilung und dem Interesse der Allgemeinheit an einer zügigen Beendigung des Vergabeverfahrens durchzuführen.
Der Zuschlag kann ausnahmsweise gestattet werden, wenn das Interesse am Abschluss des Vertrages so stark ist, dass nicht bis zur Entscheidung gewartet werden kann, der Vollzug der Vergabe muss außergewöhnlich eilbedürftig sein. Die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zum Abschluss des Nachprüfungsverfahrens müssen die Vorteile des Vergaberechtsschutzes deutlich überwiegen (VK Sachsen, Beschl. v. 23.05.2023, a.a.O.).
Ein solcher Ausnahmefall liegt vorliegend nicht vor. Der Antrag hat keinen Erfolg, weil die vorzunehmende Interessenabwägung nicht zu Gunsten der AG ausfällt.
Im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung der Vergabekammer ist eine Interessenabwägung zwischen den oben beschriebenen Nachteilen für den rechtsschutzsuchenden Bieter und dem Interesse des öffentlichen Auftraggebers an der vorzeitigen Zuschlagsgestattung, dem Interesse der Allgemeinheit und den übrigen am Nachprüfungsverfahren beteiligten Unternehmen, insbesondere des Unternehmens, das nach der Vorabmitteilung des Auftraggebers den Zuschlag erhalten soll, vorzunehmen.
a.) Grundvoraussetzung für die Interessensabwägung ist die besondere Dringlichkeit der Zuschlagsgestattung. Es ist bereits fraglich, ob eine besondere Dringlichkeit gegeben ist. Jedenfalls beruht die Verzögerung auf Umständen, die von der AG selbst herbeigeführt wurden.
Die AG trägt zur Begründung des Eilantrags vor, dass durch das Nachprüfungsverfahren eine Verzögerung bei Erteilung des Zuschlags eintrete. Der Zuschlag könne aufgrund des durch die AST eingereichten Nachprüfungsantrags nicht mehr wie geplant erteilt werden, wodurch sich die flächendeckende Einführung der Biotonnen im Landkreis xxxxx zum 01.01.2025 verzögere.
Vor der eigentlichen Interessensabwägung ist klarzustellen, dass es Aufgabe des öffentlichen Auftraggebers ist, dezidiert darzulegen, weshalb mit der Erteilung des Zuschlags nicht bis zu einer Entscheidung der Vergabekammer in der Hauptsache abgewartet werden kann (OLG Celle, Beschl. v. 31.01.2011, 13 Verg 21/10). Ein entsprechender Antrag muss daher schlüssig darlegen und glaubhaft machen, dass die Voraussetzungen für die Gestattung des Zuschlags vorliegen. Ohne hinreichende substantiierte Begründung hat die Vergabekammer keine Basis, über die im Raum stehende, endgültige Vernichtung des Primärrechtsschutzes der Antragstellerin des Nachprüfungsverfahrens zu entscheiden.
Ausgehend davon erscheint das Vorbringen der AG hinsichtlich einer hinreichend substantiierten Begründung fraglich.
Zunächst ist festzustellen, dass die Verzögerung der Zuschlagserteilung durch ein Nachprüfungsverfahren jedem Nachprüfungsverfahren immanent ist und droht dementsprechend auch in jedem Vergabeverfahren. Daher hat ein Auftraggeber Verzögerungen, die sich aus einem Nachprüfungsverfahren ergeben, grundsätzlich hinzunehmen und in seine Planungen einzukalkulieren (OLG Celle, Beschl. v. 21.03.2001, 13 Verg 4/01; OLG Jena, Beschl. v. 14.11.2001, 6 Verg 6/01). Entsteht durch das Nachprüfungsverfahren eine längere Verzögerung als üblicherweise zu erwarten wäre, wird teilweise vertreten, dass dies die Stattgabe eines Gestattungsantrages rechtfertigen könne (a.A. Holtmann, in: Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, 4. Aufl. 2022, § 169 Rn. 24). So wird vertreten, dass eine erheblich über die Vorgabe des § 167 Abs. 1 GWB hinausgehende Verlängerung der Entscheidungsfrist durch die Vergabekammer einen Grund für die Vorabgestattung des Zuschlags darstellen kann (OLG Celle, Beschl. v. 31.01.2011; Herrmann, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 5. Aufl. 2024, § 169 Rn. 19).
aa.) Der von der AG angesetzte Zeitraum für die Durchführung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens erscheint vor dem Hintergrund der an die Erstgestellung der Abfallbehälter anknüpfenden Leistungen und der geplanten Einführung der flächendeckenden Biotonnen ab 01.01.2025 als nicht ausreichend bemessen.
Ob die Verlängerung der Entscheidungsfrist der Vergabekammer um vorliegend zehn Wochen für die Stattgabe des Eilantrages sprechen könnte, kann hier dahinstehen. Aus den Vergabeunterlagen, insbesondere dem aus dem Eckpunktepapier ersichtlichen Terminplan, ergibt sich bereits, dass ein hinreichender Zeitraum für ein mögliches Nachprüfungsverfahren bzw. Beschwerdeverfahren nicht in die Planungen der AG einkalkuliert wurde. Dafür spricht zunächst, dass der Antrag auf Vorabgestattung der Zuschlagserteilung eine Woche vor Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist von fünf Wochen gemäß § 167 Abs. 1 S. 1 GWB gestellt wurde. Dementsprechend wäre die Verzögerung der Zuschlagserteilung bereits bei Entscheidung der Vergabekammer innerhalb der vorgenannten Frist und damit unabhängig von einer Verlängerung der Entscheidungsfrist um zehn Wochen durch die Vergabekammer eingetreten.
Ferner erscheint der Vortrag der AG im Gestattungsantrag vom 26.07.2024 dahingehend nicht plausibel, dass die geplante Zuschlagserteilung ursprünglich zum 01.07.2024 erfolgen sollte. Denn aus dem der Ausschreibung zugrundeliegenden Terminplan (Eckpunktepapier) geht hervor, dass der endgültige Zuschlag Ende Juli 2024 erteilt werden sollte und die Zuschlags- und Bindefrist der Angebote bis zum 20.08.2024 vorgesehen war. Eine siebenwöchige Rechtsmittelfrist (fünf Wochen vor der Vergabekammer, zwei Wochen vor dem Beschwerdegericht), die nach der Rechtsprechung einzuplanen ist, wurde jedoch - wenn man den Zeitraum "Ende Juli" bis 20.08.2024 betrachtet - nach dem ursprünglichen Zeitplan vorliegend nicht einkalkuliert. Dies wurde auch seitens der AG nicht vorgetragen.
Die AG führte in ihrem Schriftsatz vom 26.07.2024 lediglich aus, dass sie vor dem Hintergrund der am 20.08.2024 endenden Zuschlags- und Bindefrist berücksichtigt habe, dass dem erfolgreichen Bieter nach Erteilung des Zuschlags mindestens ein Zeitraum von ca. sechs Wochen zur Verfügung stehen müsse, um die Leistung fristgerecht erbringen zu können. Im Gegenteil spricht die AG selbst von "einem engen zeitlichen Ablaufplan".
Zwar gestaltete sich der tatsächliche Ablauf des Vergabeverfahrens vorliegend zügiger als geplant. Die Vorabinformationsschreiben wurden, entgegen der Behauptung der AST, am 20.06.2024 versandt. Der Zuschlag sollte danach frühestens am 01.07.2024 erteilt werden. Bis zur ursprünglich geplanten Auftragserteilung am 20.08.2024 liegen zwar mithin sieben Wochen, so dass man eine ausreichende Rechtsmittelfrist annehmen könnte. Dagegen spricht jedoch, dass selbst für diese Annahme die Zeit so knapp bemessen wurde, dass - wie oben ausgeführt - noch nicht einmal die fünfwöchige Entscheidungsfrist der Vergabekammer gemäß § 167 Abs. 1 S. 1 GWB seitens der AG ausgereicht hätte, um den Terminplan zur Einführung der Biotonne ab 01.01.2025 einhalten zu können, da der Gestattungsantrag bereits vor Ablauf der Entscheidungsfrist nach § 167 Abs. 1 GWB gestellt wurde.
Die AG führte vielmehr aus, dass eine sechswöchige Vorlaufzeit zur Produktion der Abfallbehälter und deren Montage mit den durch die AG zur Verfügung zu stellenden Transpondern einzuplanen sei, damit eine Auslieferung bis zur 40. KW erfolgen und eine Verteilung an die Haushalte bis Dezember 2024 hätte erfolgen können. Eine ausreichende Zeit für die Durchführung eines Nachprüfungs- bzw. Beschwerdeverfahrens wurde jedoch durch die AG gerade nicht eingeplant. Mithin waren für das gesamte Vergabeverfahren, ab Veröffentlichung am 16.04.2024 und ursprünglich beabsichtigter Zuschlagserteilung "Ende Juli 2024" nur ca. 3,5 Monate geplant. Nimmt man gemäß Nr. 5.1.3 der europaweiten Auftragsbekanntmachung den 20.08.2024 als Datum des Vertragsbeginns an, hätte die AG für die komplette Durchführung des europaweiten Vergabeverfahrens gerade einmal ca. vier Monate eingeplant. Der von der AG angesetzte Zeitraum für die Durchführung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens erscheint vor dem Hintergrund der an die Erstgestellung der Abfallbehälter anknüpfenden Leistungen und der geplanten Einführung der flächendeckenden Biotonnen ab 01.01.2025 somit als nicht ausreichend bemessen.
bb.) Die AG hat ferner mit der Ausschreibung des Vergabeverfahrens zu spät begonnen.
Für die Vergabekammer ist vor dem Hintergrund des der AG bekannten Beschlusses des Kreistages vom 21.10.2021 über die Einführung der Biotonne ab 01.01.2025 nicht nachvollziehbar, warum die Ausschreibung erst am 16.04.2024 veröffentlicht wurde. Die Vergabekammer verkennt nicht, dass umfangreiche Vorbereitungen zur Ausschreibung, insbesondere die am 07.11.2022 eingeleitete Abfrage bei den Haushalten über den Bedarf einer Biotonne, zu treffen waren. Allerdings lagen der AG die Bedarfszahlen hinsichtlich der Menge an Abfallbehältern zum 31.01.2023 vollständig vor. Denn selbst für den Fall, dass auf die Anfrage nicht geantwortet worden wäre, hätte die AG einen Bedarf einer 80 Liter-Biotonne für den betreffenden Haushalt angenommen.
Zwar obliegt der AG ein Ermessenspielraum hinsichtlich der zeitlichen und inhaltlichen Ausgestaltung des Vergabeverfahrens. Jedoch leuchtet der Vergabekammer nicht ein, warum die Verwertungsleistung von Bioabfall (Los 1) mit Veröffentlichung vom xx.07.2023 (Tag der Absendung der Bekanntmachung, xxxxx ) europaweit ausgeschrieben wurde, während die Lieferleistung der Biotonnen für die Erstgestellung und Verteilung an die Haushalte erst im Laufe des Jahres 2024, nämlich am xx.04.2024, veröffentlicht wurde. Gründe, warum die streitgegenständliche Ausschreibung nicht parallel oder zumindest in zeitlichem Zusammenhang mit der Verwertungsleistung, sondern erst neun Monate nach Veröffentlichung der Ausschreibung über die Verwertung des Bioabfalls bekanntgemacht wurde, sind aus der Vergabeakte nicht ersichtlich und wurden auch von der AG nicht vorgetragen. Damit ist auch der späte Beginn des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens mithin der AG zuzurechnen.
Im Ergebnis beruht die Verzögerung auf Umständen, die von der AG selbst herbeigeführt wurden.
b.) Für ein Überwiegen der Interessen der Allgemeinheit spricht auch nicht, dass hier der Bereich der Daseinsvorsorge betroffen ist. Gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 1 KrWG besteht die Verpflichtung öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger, Bioabfälle getrennt zu sammeln. Zwar kann eine Dringlichkeit im Bereich der Daseinsvorsorge ausnahmsweise auch dann anzuerkennen sein, wenn die die Dringlichkeit verursachenden Gründe vom Auftraggeber selbst verursacht wurde. Das bedeutet aber nicht, dass der Wettbewerb ausgesetzt werden darf (Holtmann, in: Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, 4. Aufl. 2022, § 169 Rn. 23). Insofern ist es erforderlich, durch Interimsvergaben, die durchgehende Versorgung der Allgemeinheit sicherzustellen.
Entgegen der Ansicht der AST kommt vorliegend jedoch eine Interimsbeauftragung als milderes Mittel nicht in Betracht, was wiederum für die AG sprechen könnte. Denn bei der hier streitgegenständlichen Leistung geht es um die Erstlieferung der Abfallbehälter und nicht um die Dienstleistung der Entsorgung bzw. Verwertung des Bioabfalls.
Dennoch erscheint es nicht gerechtfertigt, der AST den ihr zustehenden Primärrechtsschutz "abzuschneiden". Die Einführung der Biotonne im Landkreis xxxxx wurde zwar durch Kreistagsbeschluss vom 21.10.2021 zum 01.01.2025 beschlossen und die Öffentlichkeit bereits über diesen Zeitpunkt informiert. Allerdings ist dieser Zeitpunkt nicht etwa mit einem sog. Fixgeschäft, bei dem die Durchführung bei Überschreitung der vorgesehenen Zuschlagsfristen unmöglich, wirtschaftlich unsinnig gemacht oder in unzumutbarer Weise verzögert werden würde, zu vergleichen. Vielmehr verschiebt sich die Einführung der Biotonne lediglich um die für die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens notwendige Dauer.
c.) Auch vermögen die behaupteten, der AG vermeintlich drohenden Schadensersatzansprüche, welche durch die mit der Verwertung des Bioabfalls ab 01.01.2025 beauftragten Verwertungsfirma geltend gemacht werden würden, keine Gestattung der vorzeitigen Zuschlagserteilung zu rechtfertigen. Denn der Auftraggeber muss im Falle einer "knappen Planung" auch die sich aus der Verzögerung ergebenden finanziellen Nachteile hinnehmen, es sei denn es handele sich um eine außergewöhnlich hohe finanzielle Belastung (VK Rheinland, Beschl. v. 29.03.2022, VK 8/22). Hierzu hat die AG jedoch nicht substantiiert vorgetragen. Zwar besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die AG den behaupteten Schadensersatzansprüchen ausgesetzt sieht. Angaben zur Höhe der Schadensersatzansprüche lassen sich für die Vergabekammer jedoch nicht erkennen. Im Übrigen hätte die AG, wie bereits dargelegt, aufgrund ihrer zeitlichen Planungen zur flächendeckenden Einführung der Biotonne im Landkreis xxxxx ab 01.01.2025 etwaige Schadensersatzansprüche selbst verursacht.
Gleiches gilt für die sich aus einer etwaigen Unwirksamkeit der Gebührensatzungen und deren Neuberechnung ergebenden finanziellen Nachteile.
d.) Auch die von der AG behauptete, durch das Thüringer Landesverwaltungsamt im Rahmen seiner Zuständigkeit als Aufsichtsbehörde in Aussicht gestellte Ersatzvornahme hinsichtlich der flächendeckenden Einführung der Biotonne gegenüber dem Landkreis xxxxx vermag ein Überwiegen der Interessen der Allgemeinheit nicht zu rechtfertigen. Denn hierzu wurde seitens der AG bereits nicht substantiiert vorgetragen.
e.) Zwar sprechen die allgemeinen Aussichten der AST im vorliegenden Vergabeverfahren für ein Überwiegen des Interesses der Allgemeinheit.
Denn der Nachprüfungsantrag der AST dürfte nach dem Ergebnis einer summarischen Prüfung nicht erfolgreich sein.
Die Gestattung der vorzeitigen Zuschlagserteilung wegen fehlender Erfolgsaussichten des Nachprüfungsantrags kommt jedoch nur in Betracht, wenn dessen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit auf der Hand liegt; eine weitergehende Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Eilverfahren würde das Recht des Antragstellers, seine Rügen in dem gerade dafür vorgesehenen Nachprüfungsverfahren mit dem Ziel des Primärrechtsschutzes konterkarieren (OLG Rostock, Beschl. v. 16.09.2021, 17 Verg 7/21; VK Rheinland, Beschl. v. 29.03.2022, VK 8/22). Nach summarischer Prüfung dürfte der Nachprüfungsantrag zwar zulässig, jedoch nicht begründet sein. Insbesondere dürfte die Zuschlagsaspirantin nach summarischer Prüfung ein gleichwertiges Zertifikat eingereicht haben.
Jedoch rechtfertigt allein die mangelnde Erfolgsaussicht eines Nachprüfungsantrags für sich genommen die Gestattung des vorzeitigen Zuschlags noch nicht; erforderlich ist vielmehr, dass ein besonderes Beschleunigungsinteresse des Auftraggebers hinzutritt (OLG Frankfurt, Beschl. v. 12.10.2017, 11 Verg 13/17; VK Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 28.02.2019, 1 VK LSA 03/19). Letzteres vermochte die AG gerade nicht darzulegen. Zudem hat die AG die zeitlichen Verzögerungen selbst zu vertreten. Zeitliche Verzögerungen, die der Auftraggeber selbst zu vertreten hat - zum Beispiel der vergleichsweise späte Beginn des Vergabeverfahrens - sind jedoch im Rahmen der Interessensabwägung zu seinen Lasten zu berücksichtigen (OLG Jena, Beschl. v. 04.01.2024, Verg 5/23 sowie v. 24.10.2003, 6 Verg 9/03; OLG Rostock, Beschl. v. 16.09.2021, 17 Verg 7/21; Antweiler, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 2022, § 169 Rn. 38).
Insgesamt sind überwiegende gewichtige Gründe für die Gestattung der vorzeitigen Zuschlagserteilung, welche deutlich das Interesse der AST an einer vorherigen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens übersteigen, nicht gegeben. Die vom AG aufgeführten Gründe rechtfertigen es nicht, der AST jeglichen Primärrechtsschutz zu nehmen. Ein besonderer Ausnahmefall, der dies ermöglichen könnte, liegt hier nicht vor.
3. Kostenentscheidung
Die Kostenentscheidung bleibt dem Beschluss in der Hauptsache vorbehalten.
Über die Kosten der Vergabekammer und die notwendigen Aufwendungen der Beteiligten für das Verfahren gemäß § 169 Abs. 2 S. 1 GWB wird grundsätzlich in der Kostenentscheidung der Hauptsacheentscheidung entschieden.
Unklare Leistungsbeschreibung = schwerer Vergaberechtsverstoß!
Unklare Leistungsbeschreibung = schwerer Vergaberechtsverstoß!
VG Düsseldorf, Urteil vom 10.04.2025 - 6 K 4798/21
Auflagenverstoß führt zum Fördermittelwiderruf!
Auflagenverstoß führt zum Fördermittelwiderruf!
VG Schwerin, Urteil vom 10.04.2025 - 3 A 1671/20
Abstrakte Wertungskriterien bedürfen vertiefter Dokumentation!
Abstrakte Wertungskriterien bedürfen vertiefter Dokumentation!
VK Niedersachsen, Beschluss vom 28.11.2024 - VgK-26/2024
Notenvergabe muss plausibel sein!
Notenvergabe muss plausibel sein!
BayObLG, Beschluss vom 07.05.2025 - Verg 8/24
Wann und wie ist ein Wissensvorsprung auszugleichen?
Wann und wie ist ein Wissensvorsprung auszugleichen?
OLG Saarbrücken, Beschluss vom 07.05.2025 - 1 Verg 1/25
Wann sind Hersteller- und Produktvorgaben zulässig?
Wann sind Hersteller- und Produktvorgaben zulässig?
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.07.2024 - Verg 2/24
Vertraglicher "Leistungsabruf" ist kein (neuer) öffentlicher Auft...
Vertraglicher "Leistungsabruf" ist kein (neuer) öffentlicher Auftrag!
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.07.2024 - Verg 11/24
Auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen: Behörde braucht keinen A...
Auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen: Behörde braucht keinen Anwalt!
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.08.2023 - Verg 6/23
Kein zuschlagsfähiges Angebot: Verfahrensaufhebung rechtmäßig!
Kein zuschlagsfähiges Angebot: Verfahrensaufhebung rechtmäßig!
OLG Naumburg, Beschluss vom 19.07.2024 - 6 Verg 1/24
Vergabe nach KonzVgV und VgV trotz Bereichsausnahme möglich!
Vergabe nach KonzVgV und VgV trotz Bereichsausnahme möglich!
VG Darmstadt, Beschluss vom 01.04.2025 - 7 L 2856/24